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08.10.2020 aus 
Forschung + Transfer
Wenn das Gehirn alles vergisst

Wir alle vergessen mal etwas. Aber wie viel Vergesslichkeit ist noch normal und ab wann spricht man von einer ernsthaften Demenzerkrankung? Prof. Daniela Dieterich, Sprecherin des Graduiertenkollegs „Die alternde Synapse“ von der Uni Magdeburg, hat mit uns über die bisher unheilbare Krankheit Alzheimer gesprochen. Sie verrät, wie erste Anzeichen aussehen können und klärt darüber auf, ob „Gehirnjogging“, Sport und gesunde Ernährung Alzheimer tatsächlich aufhalten können. 

Heute zu Gast

Unser heutiger Gast Prof. Daniela Dieterich forscht an der medizinischen Fakultät der Universität Magdeburg und ist Leiterin des Graduiertenkollegs "Die alternde Synapse". Hier beschäftigt Sie sich unter anderem mit molekularer Zellbiologie oder synaptischer Plastizität, um Therapien für die Volkskrankheit Alzheimer zu entwickeln. An der medizinischen Fakultät der Uni Magdeburg werden neben Humanmedizinern*innen auch Immunologen*innen und Neurowissenschaftler*innen ausgebildet.

Bei der Aufnahme des Wissenschaftspodcasts zum Thema Demenz (c) Hannah Theile Uni Magdeburg

Bei der Aufnahme des Wissenschaftspodcasts zum Thema Demenz mit Prof. Dieterich (links) und Friederike Süssig-Jeschor (Foto: Hannah Theile / Uni Magdeburg)

Der Podcast zum Nachlesen

Introstimme: Wissen, wann du willst. Der Podcast zur Forschung an der Uni Magdeburg.

 

Friederike Süssig-Jeschor: Heute widmen wir uns einem sehr emotionalen Thema: Alzheimer. Wer den Film „Honig im Kopf“ mit Dieter Hallervorden gesehen hat, der weiß, dass die Veränderung der Betroffenen und die Belastung für die Angehörigen einen bis ins Mark treffen. Mein Name ist Friederike Süssig-Jeschor, ich arbeite als Pressesprecherin an der Medizinischen Fakultät der Uni Magdeburg. An meiner Seite darf ich heute Prof. Dr. Daniela Dieterich als Gast begrüßen. Sie ist neue Dekanin der Medizinischen Fakultät, Direktorin des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Uni Magdeburg und Sprecherin des Graduiertenkollegs „Die alternde Synapse“. In dem Förderprogramm haben sich die Uni Magdeburg, das Leibniz-Institut für Neurobiologie und das Deutsche Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen zusammengetan, um den wissenschaftlichen Nachwuchs auf dem Weg zum Doktortitel zu unterstützen. Diese Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler forschen auf dem Gebiet der neurodegenerativen Erkrankungen. Dazu zählt auch Alzheimer. Herzlich willkommen Prof. Dieterich!

 

Prof. Dieterich: Guten Morgen! Ich freu mich hier zu sein.

 

Süssig-Jeschor: Wie sind Sie persönlich eigentlich zu diesem Forschungsgebiet gekommen? Was fasziniert Sie so an dem Thema Alzheimer?

 

Prof. Dieterich: Ich fand schon als Kind und Schülerin unglaublich, zu welchen geistigen Fähigkeiten wir im Stande sein können, also Erlernen von motorischen Bewegungen, ganz klar Fahrradfahren, war für mich ein toller Punkt, aber auch das Erlernen von einem Musikinstrument, das gemeinsame Spielen in einem Orchester, das hat mich fasziniert und auch wie man sich an manche Dinge so wirklich ganz plastisch erinnern kann. Und ich habe dann Biochemie studiert und dann lag es nahe, dass ich das Molekulare und Zelluläre untersuche, was kognitiven Leistungseigenschaften zugrunde liegt.

 

Süssig-Jeschor: Das Graduiertenkolleg besteht aus dreizehn Teilprojekten. Das ist ziemlich komplex und vielschichtig. Auf welches gemeinsame Ziel arbeiten Sie hin?

 

Prof. Dieterich: Wie im Alter neurodegenerativen Erkrankungen vorgebeugt werden kann und wie diese behandelt werden können. Wir haben uns wirklich die Frage gestellt: Was passiert eigentlich bevor eine Krankheit auftritt? Nicht, wie bildet sich das Nervensystem aus, das ist nicht unser Fokus, sondern: Was passiert auf dem Weg der Alterung? Gibt es da einen „point of no return“, an dem alle Punkte festgelegt sind, die dann zu einer Erkrankung führen, oder können wir dieses aufhalten? Das war unsere Frage. Wir wollten uns nicht speziell einem Krankheitsmodell widmen. Klar, der Fokus ist da neurodegenerative Erkrankungen, aber wir haben gesagt, wir gehen einen Schritt zurück. Wir schauen uns das System an bevor etwas nicht mehr balanciert ist und so haben wir vier Themenfelder definiert, nämlich: Dysbalancen von Proteinen, die an synaptischen Stellen, diesen Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, vorhanden sind. Was passiert dort während des Alterungsprozesses? Welche Rolle spielen Entzündungen? Welche Rolle spielen Neuromodulationen? Und wir haben auch natürlich humane Projekte dabei, in denen wir schauen: Was ist der Einfluss von bestimmten Neurotransmittern während des Alterungsprozesses? Wie zum Beispiel Dopamin.

 

Süssig-Jeschor: Welche Arten von neurodegenerativen Erkrankungen gibt es? Vielleicht können Sie uns erklären, wo der Unterschied zwischen Alzheimer und Demenz liegt.

 

Prof. Dieterich: Neurodegenerative Erkrankungen sind zunächst mal ein Sammelbegriff für eine Reihe von Erkrankungen, die in erster Linie die Nervenzellen des Gehirns betreffen. Nervenzellen vermehren und ersetzen sich in der Regel nicht mehr. Das ist ein Problem. Somit können beschädigte oder abgestorbene Nervenzellen, und das passiert im Laufe des Lebens immer wieder, vom Körper nicht erneuert werden. Und zu den neurodegenerativen Erkrankungen zählt man, wie Sie schon eingangs gesagt haben, Alzheimer, aber auch die parkinsonsche Erkrankung, die huntingtonsche Erkrankung oder auch das Formenfeld der sogenannten Bewegungsstörungen, die Ataxien. Neurodegenerative Erkrankungen sind nicht heilbar, leider. Das wissen wir. Sie schwächen die Gesundheit und führen zu einer fortschreitenden Degeneration und am Ende zum Tod von Nervenzellen. Die Folge sind dann eben Bewegungskoordinationsprobleme. Das sind diese Ataxien, oder ein Verlust der mentalen Fähigkeiten und das bezeichnet man allgemein als Demenzerkrankungen. Das ist der Unterschied und die alzheimersche Krankheit, die macht mit sechzig Prozent bis siebzig Prozent der Demenzerkrankungen eigentlich den größten Teil aus. Und sie gehört zu den sogenannten primären Demenzen. Im Unterschied dazu gehören zum Beispiel Demenzen, aufgrund eines Hirntraumas, einer Alkoholsucht, zu den sekundären Demenzen.

 

Süssig-Jeschor: Laut Weltgesundheitsorganisation gibt es bis 2050 doppelt so viele Menschen über 65. Steht das irgendwie im Zusammenhang mit der erhöhten Anzahl an Demenzerkrankungen? Also liegt es daran, dass die Menschheit immer älter wird? Oder warum wird immer häufiger diese Diagnose Alzheimer gestellt?

 

Prof. Dieterich: Der größte Risikofaktor für Demenzen ist in der Tat das Älterwerden an sich. Aber es ist auch eine Kombination aus dem Älterwerden, teilweise auch den besseren Diagnostiken, dass man besser erkennt, dass es sich um eine Demenz handelt, aber auch andere Risikofaktoren, die wir eben in unserer sogenannten westlichen Welt haben. Nämlich: Übergewicht, Alkohol, aber vor allem auch Stress. Frauen erkranken zum Beispiel wegen ihrer längeren Lebenserwartung häufiger an Demenz. Das sieht man an den Statistiken. Dafür schreitet der geistige Abbau zumeist bei ihnen langsamer voran und die Männer trifft es zwar ein bisschen seltener, aber dann schreitet die Krankheit schneller voran und ist auch im Verlauf schwerer. Ganz neue Arbeiten aus dem letzten Monat zeigen, dass vielleicht das zweite X-Chromosom der Frauen hier einen protektiven Effekt haben könnte und das ist ein interessantes Target für eine Behandlung und, wie schon erwähnt, im Moment können wir neurodegenerative Erkrankungen nicht heilen. Ist einmal der Prozess der Erkrankung angeschaltet, sterben einmal Nervenzellen ab, und das kann nachher bis zu einen Verlust von 20 Prozent der Gehirnmasse führen, können wir das nicht aufhalten. Also wir können Nervenzellen so nicht ersetzen, wie wir das bei einer Leber zum Beispiel machen können.

 

Süssig-Jeschor: Lassen Sie uns mal ein bisschen mehr in die Tiefe gehen. Was genau passiert da im Gehirn, wenn es zu einer Alzheimererkrankung kommt? Was ist der Auslöser?

 

Prof Dieterich: Wie gerade schon erwähnt: Die klinischen Symptome manifestieren sich durch einen fortschreitenden Verlust von den Nervenzellen und die Folge hiervon ist diese gerade erwähnte Schrumpfung und damit verbundene Vertiefung der Windungsfurchen an der Hirnoberfläche, die wir sehen können, sowie eine Erweiterung der Ventrikel der sogenannten Hirnkammer. In den mittleren und fortgeschrittenen Krankheitsstadien kann diese Schrumpfung dann durch bildgebende Verfahren, wie wir sie auch hier in Magdeburg an mehreren Standorten sehr, sehr gut darstellen können und anwenden, untersucht werden und diese Untersuchungen können dann auch helfen, um eine Demenz, eine Alzheimer-Demenz, von anderen Erkrankungen abzugrenzen, die ein ähnliches klinisches Erscheinungsbild haben, zum Beispiel zerebrovaskuläre Krankheiten. Das ist ganz, ganz wichtig nachher auch für die Behandlung.

Kommen wir zum Untergang nochmal dieser Nervenzellen zurück: Was passiert da eigentlich molekular und zellulär? Durch diesen Untergang verlieren Nervenzellen ihre Kontaktmöglichkeiten und wir wissen alle, wie wichtig Kontakt ist im Leben. Wir haben Freunde, wir haben ein soziales Umfeld und nichts Anderes sind Nervenzellen eigentlich auch gewohnt. Das heißt, wenn ihre Kontaktstellen auf einmal versiegen, wenn diese Information nicht weitergeleitet wird, dann fühlen sie sich nicht nur abgekoppelt, sondern sie verlieren auch ihren metabolischen Support und gehen zugrunde. Eine ganz wichtige, tieferliegende Hirnstruktur ist dabei der Meynert-Basalkern. Hier wird ein ganz wichtiger Neurotransmitter von den Nervenzellen gebildet, das so genannte Acetylcholi. Und vielleicht haben Sie schon mal von sogenannten Antidementiva gehört, das heißt Pharmaka, die den Fortschritt der Erkrankung zumindest ein bisschen aufhalten können. Diese sogenannten Acetylcolinespharasehemmer werden in der Klinik eingesetzt und die bewirken, dass dieser Neurotransmitter nicht so schnell abgebaut wird und das kann zu einer Verzögerung der Krankheit führen. Und in Folge, vor allem des Absterbens dieser Zellen im Meynert-Basalkern, kommt es zu einer wirklichen Disbalance. Die hatte ich eingangs schon erwähnt. Diese Veränderungen bewirken Störungen in der Informationsverarbeitung und sind dann auch ursächlich an diesem beobachteten Gedächtnisverlust beteiligt. Und das ganz Typische nun bei der Alzheimererkrankung besteht darin, dass wir Eiweißmoleküle haben, die sich zusammenklumpen. Das passiert auf der Ebene von zwei Proteinen, einmal auf einem Zytoskelett-Protein, dem Tau-Protein, was dann in einer hyperphosphorylierten Form vorliegt. Hyper, das ist ja eigentlich etwas, wo man sagt: Das ist ja „exciting“, aber für eine Nervenzelle ist das wirklich nicht gut und da kommt es dann zu der sogenannten Ausbildung von Neurofibrillen. Die hat der Alois Alzheimer, nach dem die alzheimersche Krankheit ja auch benannt ist, wirklich damals schon im Mikroskop entdeckt bei seinen Patienten. Der zweite Punkt, an dem sich Eiweißmoleküle auf einmal abnorm verhalten, und wir wissen immer noch nicht genau warum das passiert, ist, wenn sich das sogenannte „E-B beta" ablagert und zwar diesmal außerhalb der Zelle. Tau macht das innerhalb und „E-B beta" macht das außerhalb. Man kann sich das vielleicht so ein bisschen vorstellen, wie wenn der Müll in einer Straße überhandnimmt und kein Auto kommt mehr durch, keine Information kommt mehr durch und man erreicht nicht mehr sein Haus. Und hat man dann diese Probleme, diese Ablagerungen, sterben Zellen ab, und das ist unwiderruflich. Und so haben wir jetzt gerade auch nochmal zwei Targets identifiziert, oder in die Diskussion gebracht, die auch wirkliche Targets im Moment in der Pharmaforschung sind. Es gibt Antikörperstudien mittlerweile, die zeigen, dass nicht nur, wenn in Zellkultur solche Zellen Verklumpungen haben, geholfen werden kann, sondern auch die ersten Versuche mit Probanden, zeigen zwar nicht, dass die Krankheit zurückgedreht werden kann, aber dass sie doch aufgehalten werden kann. Das heißt es kommt jetzt immer mehr darauf an, wie früh können wir Alzheimer erkennen.

 

Süssig-Jeschor: Sie kennen das sicherlich auch: Ich muss mir sehr viele Notizen machen, damit ich nichts vergesse, so im Alltag auch einer jungen Mutter: Einkaufszettel, To-do-Listen, alles was dazu gehört. Ist das schon ein Vorbote von Alzheimer oder wie erkenne ich frühzeitig diese Erkrankung?

 

Prof. Dieterich: Also das ist komplett normal, hoffe ich zumindest, weil ich verlege auch immer meinen Schlüssel, aber Demenz, wie wir sie bei Alzheimer sehen, als eine Altersdemenz auch, die entwickelt sich langsam. Am Anfang fallen die Betreffenden zum Beispiel auf, weil sie öfter mal unaufmerksam sind. Sie stellen häufig die gleichen Fragen, das hat man bestimmt vielleicht schon mal aus dem eigenen Umfeld, oder aus zumindest Filmen, der Belletristik gehört, oder finden im Gespräch auch dann nicht gleich die richtigen Worte. Ja, das Verlegen der Gegenstände gehört dazu, an teilweise wirklich abstrusen Orten findet man dann die Fernbedienung wieder, entweder in der Sockenschublade oder vielleicht auch mal im Kühlschrank. Die an Alzheimer Erkrankten können Gesichter nicht mehr zuordnen, teilweise auch zu Personen, die sie schon sehr, sehr lange kennen. Ihr Urteilsvermögen, das ist auch ein Punkt, ist einfach eingeschränkt, sie gehen zum Beispiel in Pantoffeln einkaufen oder ziehen sich im Winter nur Sommersachen an und verkühlen sich und dann auch komplexere Aufgaben, wie Wechselgeld erhalten und nochmal nachzählen oder Ausfüllen von Formularen, fallen ihnen dann schwer. Was noch dazu kommt, das sind Verhaltensauffälligkeiten und das ist wahrscheinlich auch mit einer der Punkte, wo Angehörige dann zum ersten Mal bemerken: Hier stimmt wirklich etwas nicht. Das sind zum Beispiel ganz sanftmütige Menschen, die sind auf einmal aggressiv, auch weil sie wahrscheinlich mit der neuen Situation, in der sie sich selber gerade befinden, nicht umgehen können. Und das führt dann dazu, dass sich diese Person auch oft aus dem sozialen Kreis zurückziehen, weniger Freunde treffen, weniger draußen an der Luft sind, einfach weil diese Unsicherheit auch da ist. Und damit wird der Verdacht einer Demenz auch wirklich sehr, sehr oft von den Angehörigen gestellt, die diese Verhaltensänderungen und diesen kognitiven Leistungsabfall eben auch bemerken. Die Betroffenen selbst klagen zwar auch zum Teil über diese Leistungseinschränkungen, schieben diese meistens aber auf ihr fortgeschrittenes Alter und nicht eben auf eine Erkrankung. Das heißt, der Schritt in die neurologische Ambulanz, in die Demenzsprechstunde findet sehr, sehr häufig sehr spät statt.

 

Süssig-Jeschor: Kann man denn von typischen Verläufen sprechen oder unterscheidet sich das schon? Sie haben ja auch angesprochen, dass es sich durchaus auch geschlechterspezifisch unterschiedlich entwickeln kann. Kann man sagen, dass es einen typischen Verlauf gibt?

 

Prof. Dieterich: Ja, der typische Verlauf, wie gesagt: Verlegen von Gegenständen, das Nachlassen der Urteilskraft, der fortschreitende Kontrollverlust über die eigenen Fähigkeiten bis hin dann wirklich auch zu einem Verwirrtsein, was einen individuellen Alltag eigentlich nicht mehr möglich macht. Bis hin dann eben zu einer wirklichen Pflegestufe eins, zwei und drei, in denen die Patienten dann auch wirklich rund um die Uhr betreut werden müssen.

 

Süssig-Jeschor: Kommen wir vielleicht zu dem Punkt, was Menschen, die feststellen, dass sie eine Erkrankung haben oder erkrankt sind, tun können. Mittlerweile gibt es ziemlich viele Apps, mit denen man seine kognitiven Fähigkeiten trainieren kann, die wohl bekannteste ist Dr.-Kawashimas-Gerhirn-Jogging. Die kennen wir alle. Auch unser Start-up neotiv forscht daran, wie sich das Gehirn durch eine App trainieren lässt. In einem anderen Forschungsprojekt der Uni wird mit einem Tanzrollator der Zusammenhang von Bewegung und der Leistung des Gehirns erforscht. Also im Prinzip, ob ältere Menschen, die sich bewegen, geistig fitter sind. Hilft das? Kann ich damit Alzheimer vorbeugen? Und den Verlauf verlangsamen?

 

Prof. Dieterich: Ja! Komplett! Das ist mittlerweile, wenn ich mit meinen Studenten in den Pharmakologie- und Toxikologie-Vorlesungen, beziehungsweise in den Seminaren zu Demenzen komme, dann ist es das, was ich immer nur sagen kann: Liebe, liebe Mediziner! Geht in die Forschung, wir haben mittlerweile Targets. Macht klinische Forschung, weil wir im Moment keine oder nur unzureichende Therapiemöglichkeiten zur Verfügung haben, außer: Ihr müsst eure Patienten aktivieren! Der Tanzrollator ist ein Beispiel für Bewegung. Bewegung sind motorische Fähigkeiten, die koordiniert werden müssen vom Gehirn, das ist Input für das Gehirn und damit trainiert es das Gehirn. Genauso, wie die vielen Gehirn-Jogging-Apps, die auf dem Markt sind und auch da setzt ja neotiv an, dass man sein Gehirn über einen langen Zeitraum monitort, trainiert und damit diesen graduellen Abfall besser einschätzen kann. Man trainiert auf der einen Seite, aber man hat mit diesen Apps jetzt auch erstmal die Möglichkeit, sehr schnell eine Warnung zu bekommen: Jetzt sollte man vielleicht nochmal in eine neurologische Ambulanz, vielleicht ist das jetzt der Indikator, dass jetzt eine Demenz beginnt. Und das spiegelt auch sehr gut die Tierversuche wieder, die in den letzten dreißig Jahren gemacht wurden. Wir wissen schon seit den achtziger Jahren – das waren Versuche von Henriette von Prag, damals eine Israelin, die Mäuse und Ratten in einen Käfig gebracht hat, in dem sie ihrem natürlichen Laufvermögen nachkommen können. Ratten, Nager, laufen, das sehen wir ja auch in der Umwelt, wenn wir draußen eine Ratte sehen, die läuft weg oder läuft auf uns zu. Die sind Bewegungsdrang-Tiere. Und, wenn man den Tieren diese Möglichkeit gab und sie dann später in einem fortschreitenden Alter getestet hat, auf ihr Lernvermögen, dann haben die unglaublich gut abgeschnitten, vor allem im Vergleich zu ihren Artgenossen, ihren Geschwistern, die einfach nur im Käfig saßen. Also Bewegung ist ein Faktor, Übergewicht ist ein Faktor, der negativ Demenzen beeinflusst, das wissen wir. Deshalb bei Diabetikern Gewicht runter, das ist ein Faktor für eine beginnende Demenz. Also dieses Zusammenspiel von Bewegung, von sozialen Kontakten, von Interaktion und da ist natürlich eine App wunderbar, aber eben auch der menschliche Kontakt, Tanzgruppen! Wir sehen auch in den Seniorenheimen, die wirklich guten Institutionen, die aktivieren ihre Patienten mit Musik, mit Tanzen, mit gemeinsamem Kochen. Das ist das, was uns als Menschen ausmacht, und das ist auch ein Faktor, wie wir Demenzen und co behandeln können. Das gehört zu jeder Therapie mit dazu und wird auch weiterhin so bleiben.

 

Süssig-Jeschor: Sie haben es selbst gesagt, bisher ist diese Krankheit nicht heilbar. Was motiviert Sie denn, jeden Morgen ins Labor zu gehen und den Kampf trotzdem gegen diese Krankheit aufzunehmen?

 

Prof. Dieterich: Es ist ein ungelöstes Rätsel, und ich bin fasziniert von Rätseln, und ich bin ein Mensch, der intrinsisch gern optimiert. Da bin ich hoffnungslos wirklich diesem gesamten Reiz ausgesetzt, aber auch: Schauen wir uns die Statistiken an. Jeder von uns kennt einen dementen Menschen oder wird einen dementen Menschen im nahen Angehörigen- oder Freundeskreis haben. Das ist schon der Statistik geschuldet und auch meine Familie war davon betroffen. Wir haben exakt diesen Verlauf auch bei unserem Vater mitangesehen und das motiviert. Also es ist der Reiz des Komplexen, aber auch, dass wir wirklich jeden Tag sehen, dass diese Erkrankung zunimmt und die Zahlen sprechen da für sich. Wie Sie schon gesagt haben eingangs, es ist ein sehr, sehr emotionales Thema. Das kann man nur mit einer breiten Forschung angehen und das versuchen wir eben auch mit Hilfe unseres Graduiertenkollegs. Das versuchen wir auf dem Campus. Es gibt unglaublich viele Gruppen, die sich mittlerweile der Alzheimerdemenz oder der Demenzen allgemein widmen, denn wenn wir, denke ich, eine Krankheit dieses Typus entschlüsseln können, dann können wir Parallelen, auch für andere neurodegenerative Erkrankungen ziehen. Vielleicht nicht eins zu eins, aber doch so, dass wir nicht immer wieder von Neuem beginnen müssen.

 

Süssig-Jeschor: Sie beschäftigen sich ja nun schon sehr lange mit diesem Thema, schon mehr als 20 Jahre forschen Sie auf diesem Gebiet. Gab es denn eine Erkenntnis, die Sie auch überrascht hat?

 

Prof. Dieterich: Ja, das Zusammenspiel von diesen unglaublich vielen Faktoren: Stress, Ernährung, gesunder Schlaf, soziales Verhalten, die Interaktion. Das war für mich überraschend. Im Nachhinein sagt man: „Ah, das war nicht überraschend. Das war ein Nobrainer.“ Aber als wir wirklich darüber gestolpert sind, dass es einen direkten Zusammenhang gibt mit Diabetes, mit mangelnder Bewegung, mit ungesunder Ernährung, das traf mich schon. Und als wir dann noch näher geguckt haben, wo sind denn zum Beispiel weltweit die Regionen, die am wenigsten von Alzheimer betroffen sind, dann waren das die Regionen, in denen bestimmte Lebensmittel schon öfter auch konsumiert wurden, wie zum Beispiel fermentierte Sojabohnen, Spermidin und die zeigen aber nicht nur auf das Gehirn eine gute Wirkung, sondern eben auf den gesamten Organismus.

 

Süssig-Jeschor: Kommen wir nochmal zurück auf die insgesamt dreizehn Teilprojekte. Sie sind Sprecherin und als Sprecherin koordinieren Sie diesen Forschungsverbund, das ist also ein riesen Verbund von wahnsinnig vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Sie müssen also gleichzeitig viele Antworten auf unzählige Fragen finden. Wie gelingt Ihnen das? Wie schaffen Sie es, dass alle in eine Richtung laufen?

 

Prof. Dieterich: Das ist wie die wilde 13, Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer – da fühle ich mich manchmal hin und hergerissen. Wie kann das gelingen? Weil wir ein gemeinsames Ziel haben und weil wir sehr engagierte Teilprojektleiter haben, die teilweise schon sehr lange auch eine Historie gemeinsamen Forschens und auch Lebens irgendwie haben. Man hat die gemeinsamen Ziele, man hat natürlich auch die gleichen, manchmal Niederlagen, aber es schweißt zusammen. Wir haben uns entschieden, früh ein längeres Recruitment für unsere Studenten, die in diesen Teilprojekten forschen, zu machen. Das heißt, wir haben ein kleines Symposium organisiert und haben uns zwei Tage kennengelernt und haben dort dann eins zu eins, uns finden und suchen können, von beiden Seiten. Das heißt, Forschung, für mich jedenfalls, ist immer eine persönliche Art. Wenn ich jemanden betreue, gehe ich eine Beziehung ein. Ich bin für jemanden verantwortlich, ihn auszubilden, sie auszubilden und auf die nächsten Schritte zuzuführen. Also Karrieremöglichkeiten aufzuzeigen, aber auch Limitationen, das gehört genauso dazu. Das heißt, wir haben sehr, sehr engagierte und motivierte Studenten, die auch ihre eigenen Ideen mit reinbringen, aber wir haben das Glück, dass durch diesen Recruitmentprozess es, bis dato zumindest, sehr, sehr harmonisch ist und wir eben auch diesen Input durch diese wilden 13 mit reinbekommen. Und Input bedeutet immer, eine Balance finden müssen. Und nicht zuletzt haben wir dann noch eine unglaublich engagierte Koordinatorin, die Anika Dirks, die uns wirklich dann auch wieder so ein bisschen reinholt, gemeinsame Events organisiert, von Karriereevents über „The Pint of Science“, und das schweißt zusammen.

 

Süssig-Jeschor: Damit sind wir schon am Ende unseres interessanten Gesprächs über dieses, wie ich finde, sehr wichtige Thema angekommen. Ich danke Ihnen, Frau Prof. Dieterich, dass Sie sich die Zeit genommen haben, uns heute hier Rede und Antwort zu stehen. Wünsche Ihnen natürlich weiterhin viel Erfolg für Ihre Arbeit und Ihre Forschung und euch da draußen, vielen Dank, dass ihr wieder dabei wart.

 

Introstimme: Wissen, wann du willst. Der Podcast zur Forschung an der Uni Magdeburg.