Klimawandel betrifft nicht nur die Eisbären in der Arktis oder Millionen Menschen an den Künsten von Bangladesh. Klimawandel passiert vor unserer Haustür: 36 Stunden Starkregen in Nordrhein-Westfalen, 400 Hektar große Waldbrände in Brandenburg, Stürme mit Orkanstärke über Sachsen-Anhalt. Dem Klimawandel entgegenzuwirken, hatte sich Deutschland 2015 im Pariser Klimaschutzabkommen dazu verpflichtet, den globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen. Wie ist das zu erreichen? Damit beschäftigte sich ein „Bürgerrat Klima“ in den vergangenen Monaten. 160 Bürgerinnen und Bürger erarbeiteten mehr als 80 zum Teil radikale Vorschläge an die Bundespolitik, wie die Klimaschutzziele zu erreichen sind. Begleitet wurden sie dabei von wissenschaftlichen Paten. Eine von ihnen war Professorin Dr. Ellen Matthies, Inhaberin des Lehrstuhls für Umweltpsychologie an der Universität Magdeburg. Ines Perl sprach mit ihr über die Aufgaben des Klimabürgerrats, wie sie dessen Arbeit begleitete und zu welchen Ergebnissen er kam.
Prof. Ellen Matthies hat den Bürgerrat Klima mit ihrer Expertise unterstützt (Foto: Hannah Theile / Uni Magdeburg)
Was ist der bundesdeutsche Bürgerrat Klima?
Die 160 Teilnehmenden waren im Zufallsverfahren und auf der Grundlage demographischer Daten wie Alter, Bildungsabschluss, Migrationshintergrund, Wohnortgröße ausgewählt worden und bildeten so eine Art „Mini-Deutschland“ ab. Sie sollten überparteilich und ergebnisoffen über Maßnahmen in den Bereichen Energie, Mobilität, Bau und Ernährung zur Bewältigung der Klimakrise diskutieren. Ich hatte die Patenschaft für das Thema Ernährung übernommen. Wir luden hochrangige Expertinnen und Experten beispielsweise aus der Schweiz und Oxford zu Vorträgen ein und halfen, die Ergebnisse der Diskussionen zu strukturieren.
Bürgerräte und die damit verbundenen Diskurse in der Bevölkerung sind eine wichtige Ressource, auf die die Politik nicht verzichten sollte. Sie führen zu einer Art kollektiver Rationalität, mit der gute Entscheidungen für die Gesellschaft getroffen werden können, zu denen einzelne Individuen nicht in der Lage wären. Fragestellungen sind heutzutage so komplex, dass sie niemand mehr einfach nur mit ja oder nein, dafür oder dagegen beantworten kann. Der Bürgerrat Klima zeigte, dass Menschen wirkliche Bürger:innen sein können, im besten Sinne Gemeinwohlthemen gemeinsam verhandeln. Initiiert hatte ihn die Gruppe „Scientists for Future“, in der ich mich engagiere, und der Verein Bügerbegehren Klimaschutz.
Es tut sich doch aber auch schon etwas in Deutschland: Energiewende, Klimaschutzgesetz, Kohleausstieg, E-Mobilität. Welche Empfehlungen gibt der Bürgerrat?
Es tut sich leider nicht genug. Die Politik agierte in den zurückliegenden 10 Jahren – da war Klimawandel ja längst ein Thema – nicht hinreichend genug mutig, um das Pariser Klimaziel erreichen zu können. Hätte sie es getan, dann könnten wir heute mit dem Klimawandel und dessen Folgen besser umgehen, wären jetzt nicht so drastische Maßnahmen nötig.
50 Stunden Meinungsbildung im Bürgerrat und herausgekommen sind erstaunlich konkrete Vorschläge verbunden mit einer großen Bereitschaft, weitreichende Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Das 1,5-Grad-Ziel hat für den Rat oberste Priorität. Das zu erreichen, schlägt der Rat beispielsweise
- generelle Tempolimits auf Autobahnen, Landstraßen und in Innenstädten und den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs vor
- oder fordert, das Einbauverbot von Öl- und Gasheizungen vorzuziehen und die Pflicht zu Photovoltaikanlagen auf Dächern.
- Es soll eine Agrarwende in der Landwirtschaft von der konventionellen hin zu einer klimafreundlichen Landwirtschaft geben. Hier soll insbesondere im Bereich der Fleisch- und Milchproduktion ein Wandel erfolgen.
- Elektrische Geräte sollen so produziert werden, dass sie mindestens zehn Jahre lang halten.
- Die Flugpreise sollen die wahren Klimakosten abbilden.
Über Preise wurde erstaunlich viel diskutiert. Die Produkte hätten oft keine wahren Preise, was zu einem Lebensstil führt, der nicht kompatibel ist mit dem, den die Erde so dringend braucht. Jetzt drängt die Zeit: Der CO2-Ausstoß muss innerhalb der nächsten 15 Jahre dramatisch reduziert werden, das hat der Bürgerrat erkannt und fordert Tempo bei der Umsetzung der Klimaschutzmaßnahmen aber beispielsweise auch, die Umweltkosten direkt auf den Preis umzulegen. Quasi als Sofortmaßnahmen wären sicher der schnelle Ausbau der Erneuerbaren Energiequellen und wirkungsvolle Maßnahmen im Verkehr und beim Wohnen und Heizen umzusetzen.
Umweltschutzmaßnahmen und Nachhaltigkeitsziele ziehen oft auch Verbote und mehr Regulierungen, gegebenenfalls Sanktionen, nach sich. Sind die Menschen bereit, das zu akzeptieren und Klimaschutz aktiv mitzugestalten?
Genau das zeigt der Klimabürgerrat, die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, Einschränkungen in Kauf zu nehmen ist viel größer als die Politik annimmt, vorausgesetzt es gibt ein kluges Gesamtkonzept und den Ausschluss von Partikularinteressen. Für den Bereich Ernährung beispielsweise haben die Teilnehmenden sehr wohl erkannt, dass die Menschen ihre Ernährungsgewohnheiten umstellen müssen, es bei aller kulturellen Prägung auch können, und weitgehend auf Fleisch verzichten müssen. Das setzt aber beispielsweise eine Änderung der Ernährungsleitlinien in Deutschland voraus. Die sind derzeit noch nicht kompatibel mit dem, wie wir uns ernähren müsste, um den Planeten nicht zu schädigen.
Die Bereitschaft der Bürger:innen, Einschränkungen in Kauf zu nehmen, ist viel größer als die Politik annimmt. Für den Bereich Ernährung beispielsweise haben die Teilnehmenden sehr wohl erkannt, dass die Menschen ihre Ernährungsgewohnheiten umstellen müssen. (Foto: Shutterstock / Photographee.eu)
Der Rat erkannte, dass eine differenzierte CO2-Bepreisung von Produkten der Königsweg ist, um alle Lebensbereiche schnellstmöglich zu lenken. Doch bei allen Maßnahmen war die Sozialverträglichkeit DAS Thema, das immer wieder diskutiert wurde. Schlussendlich fand der Rat den sozialen Ausgleich pro Kopf gut, bevorzugte in seinen Empfehlungen aber dann doch direkte Investitionen in klimaschützende Maßnahmen und Technologien. Das ist widersprüchlich – darüber zerbreche ich mir als Psychologin selbst noch den Kopf, warum es gegenüber der Idee der Klimadividende oder eines Energiegeldes solche Vorbehalte gibt. Was mich auch sehr verwundert hat, war die einhellige Ablehnung einer City-Maut, denn dort, wo sie eingeführt wurde, fanden das später alle eine tolle Angelegenheit.
Bundespräsident a.D. Horst Köhler, Schirmherr des Klimabürgerrates, meinte, bisweilen seien die Bürgerräte schon weiter als die Politik. Ist Klimaschutz bei den Bürgern und Bürgerinnen angekommen? Schauen Sie jetzt auch genauer auf die Parteien und ihre Wahlprogramme?
Das ist der Punkt, die Politik ist gelähmt von Wahltaktik und Lobbyeinflüssen. Die Bürger:innen haben das Thema Klima auf dem Schirm. Es ist ihnen wichtig, insbesondere denen, die in die Zukunft planen, die jung sind und Kinder haben. Sie haben nicht nur die Idee der globalen Gerechtigkeit, also warum leben wir in Europa, in Deutschland, auf Kosten andere Menschen weltweit, sondern auch der Generationengerechtigkeit. Was für eine Welt hinterlassen wir unseren Kindern und Enkeln? Ich war in vielen Sitzungen dabei und es ist schön zu erleben, dass Menschen versuchen, gemeinschaftlich gute Antworten zu finden, die von allen mitgetragen werden und es ist beruhigend zu wissen, dass Menschen, wenn sie es wollen, auch einen Konsens finden können.
Dabei könnten Politikerinnen und Politiker das doch auch. Auch sie könnten sich, wie die Bürgerräte, Expertise für ihre Entscheidungen einholen, das Gemeinwesen im Blick haben und den Bürgerwillen durch regelmäßige Bürgerräte erfahren. Das ist ein sehr schnelles und absolut transparentes Verfahren. Am 26. April 2021 nahm der Bürgerrat Klima seine Arbeit auf, am 23. Juni stimmten die Teilnehmenden auf einer letzten Sitzung bereits ab, was in das Bürgergutachten aufgenommen werden soll. Es dauert also nicht lange, den Volkswillen, der sich noch dazu auf einer gut informierten Basis gebildet hat, einzuholen. Nach der Wahl im September wird der Rat sein Bürgergutachten mit Empfehlungen für die deutsche Klimapolitik an die neue Bundesregierung übergeben, zwingend halten muss sie sich jedoch nicht an diese.
Die große Transformation zur Nachhaltigkeit: Wie müsste sich eine Gesellschaft, aber auch das politische System, gestalten, um die Empfehlungen des Bürgerrates doch umzusetzen?
Mehr Bürgerräte? Transparenz bei der Lobbyarbeit? Beides forderte ein parlamentarischer Bürgerrat Demokratie – es war der erste seiner Art –, der vor etwa vier Jahren einberufen wurde. Seine wichtigste Empfehlung zur Bürgerbeteiligung: regelmäßig Bürgerräte durchzuführen zu wichtigen gesellschaftlichen Themen, die der Politik dann jeweils ein Bürgergutachten vorlegen. Seine wichtigste weitere Empfehlung war, endlich ein Lobbyregister einzuführen.
Andere Möglichkeiten wären ein Wahlrecht für die künftige Generation bzw. Familienstimmen. D.h. Kinder wählen direkt oder ihre Eltern erhalten Stellvertreterstimmen. Am effektivsten für den Klimaschutz wäre es, den Klimaschutz im Grundgesetz zu verankern und eine dauerhafte Klimakommission, die Gesetzesvorlagen auf Widerspruchsfreiheit zum langfristigen Klimaschutz prüft oder sogar selbst Gesetze initiieren kann. Eine solche Kommission kann dem Parlament zwar letztlich nicht vorschreiben, wie es zu entscheiden hat, aber er könnte das Parlament zwingen kurzfristig Entscheidungen der Politik kritisch zu prüfen, ob sie zum Zukunftskonzept passen und auf Diskrepanzen aufmerksam machen.
Umweltschutz und Nachhaltigkeit vs. wirtschaftlicher Interessen – sind beide als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu vereinen? Vielleicht haben Umweltschutz und Nachhaltigkeit ja auch neue wirtschaftliche Ressourcen inne?
Umwelt- und Naturschutz – eigentlich Schutz der künftigen Lebensgrundlagen – und Wirtschaft sind kein Widerspruch. Es gibt Unternehmer:innen, die haben das schon lange erkannt und wünschen sich geradezu ambitionierte, klare Rahmenbedingungen, um endlich den Wandel mitgestalten zu können. Leider gibt es große Player, wie die Energiewirtschaft und Autoindustrie, die über Jahre den Wandel blockiert haben. Es ist immer wichtig, vorausschauend zu planen, um keine Härten im Wandel entstehen zu lassen. Leider gab und gibt es auch heute viele mächtige Blockierer, die den Bürger:innen, insbesondere den Älteren, Angst machen. Darin steckt Zündstoff.
Was wäre Ihre Vision für die Zukunft, wie könnte der Bürgerrat auf die Politik der neuen Bundesregierung Einfluss nehmen?
Er tut das ja schon: Ich bin mir sicher, die große Bereitschaft, der Mut und die Ernsthaftigkeit, mit der die Bürger:innen ihre ambitionierten Klimaziele formulierten wird mit in die Koalitionsverhandlungen einfließen. Bürgerräte würden übrigens auch Sachsen-Anhalt guttun. Sie suchen und schaffen den Diskurs. Warum nicht auch einmal dazu, wie die Land-Stadt-Verbindungen zukünftig gestaltet werden können oder wohin sich der Mobilitätsraum in und um Magdeburg herum entwickeln sollte. Und die Bürger:innen selbst profitieren von ihrem Engagement in den Bürgerräten, davon dass sie in solch deliberative Prozesse einbezogen werden. Bürgerräte sind ein Lernfeld für Demokratie, für konstruktiven Umgang mit Komplexität. Mit Komplexität, mit Meinungs- und Interessenvielfalt müssen wir ja alle umgehen. Es gibt keine einfachen Lösungswege, wie uns mache Parteien suggerieren möchten.
Frau Professorin Matthies, vielen Dank für das Gespräch.