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19.08.2021 aus 
Campus + Stadt
Erst hinsehen, dann reformieren

Für die meisten ist sexualisierte Gewalt ein unangenehmes Thema. Die Studentinnen Janina Hofmann und Lys Ziebell wollen aber nicht länger wegschauen: Sie und eine stetig wachsende Community auf Instagram lesen, teilen und kommentieren die Erfahrungsberichte von Frauen, Männern und nicht-binären Personen, die im Alltag sexualisierte Gewalt, wie etwa verbale und körperliche Belästigung oder Gewalttaten aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung erfahren haben. Das Projekt „Wir sehen hin – sexualisierte Gewalt stoppen“ zeigt, wie oft solche Situationen vorkommen und wie ernst die Fälle sind. Janina und Lys wollen den Instagram-Account als Sprachrohr für die Betroffenen nutzen und sich auf diese Weise wehren. Sie wollen aufklären und insbesondere die Menschen in der Region sensibilisieren.

Die Studentinnen Janina und Lys von Wir sehen hin (c) privatDie Studentinnen Janina und Lys von Wir sehen hin (Foto: privat)

Erschreckende Berichte sollen sensibilisieren

Anfang Juni startete ihr Projekt. Über ein Formular, das über die Website zu erreichen ist, erzählten die ersten Betroffenen, meist anonym, von ihren Erfahrungen. Janina Hofmann und Lys Ziebell traf zunächst die geballte Ladung an Emotionen: „Als die ersten Erfahrungsberichte bei uns eingingen, mussten wir erstmal tief durchatmen“, so Lys Ziebell, „es war von ‘Hinterherrufen’ bis hin zu Gewalttaten alles dabei. Jedoch zeigte dies schon zu Beginn, wie wichtig unser Projekt ist.“ So schockierend es war, das zu lesen, so sehr motivierte es, das Projekt weiter ins Rollen zu bringen: „Die Leute müssen hinsehen, wo es unangenehm ist. Die Erfahrungsberichte sensibilisieren und rufen auf, das Thema nicht länger zu verharmlosen“, so die „European Studies“-Absolventin, Janina Hofmann, weiter. So soll es nicht länger „normal“ sein, unter Angst vor Gewalt durch die Stadt laufen zu müssen.

Und auch Kommentare, wie „Nimm’s doch als Kompliment“ oder „Was darf man dann überhaupt noch?“ müssen indiskutabel werden, damit sich die Schuld nicht länger auf das Opfer überträgt. Neben den Erfahrungsberichten posten die beiden Studentinnen auch Statistiken: Beispielsweise, dass es in Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr 2.224 erfasste Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gab, die Dunkelziffer jedoch weitaus höher ist. „Viele trauen sich nicht, darüber zu reden und erst recht nicht, es zur Anzeige zu bringen. Die anonymisierten Berichte machen das möglich und zeigen, wie sehr sexualisierte Gewalt auch in Magdeburg zum Alltag gehört“, sagt Janina Hofmann.

Aus der Wut wird die Idee geboren

„Ich war sofort dabei, als mir Janina von der Idee erzählte“, erinnert sich Lys Ziebell. Sie beendet gerade den Bachelor „European Studies“. Seit dem ersten Semester verbindet die beiden Projektpartnerinnen eine Freundschaft, die ihnen auch bei ihrer Zusammenarbeit hilft. Lys gestaltet neben ihren organisatorischen Aufgaben das Layout auf Instagram und die Website. „Für die Gestaltung habe ich mit Lys die perfekte Person gefunden“, sagt Janina Hofmann, die nach ihrem Bachelor in European Studies für den Master wegzog und nach diesem Sommer vieles aus der Ferne organisieren wird. Das Thema der sexualisierten Gewalt beschäftigte die beiden Studentinnen schon lange „und je älter ich wurde, desto mehr hat es mich angekotzt und desto bewusster wurde es mir im Alltag“, sagt Janina Hofmann. So kam es zur Idee. Mit den Erfahrungsberichten soll gezeigt werden, wo sexualisierte Gewalt anfängt. Ein komisches Gefühl, wenn man ein enges Shirt anzieht, anzügliche Blicke oder die Schuldzuweisung an das Opfer.

Mann hält Zettel mit Aufschrift Me too in der Hand (c) Shutterstock nitoWie oft Menschen im Alltag sexuell diskriminiert werden, zeigt auch die metoo-Bewegung, die bereits 2017 startete. (Foto: Shutterstock / nito)

„Es soll sich jeder entfalten können, wie er oder sie das will. Unser Projekt wird das zwar nicht schlagartig ändern, aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung“, erklärt Janina Hofmann, „und wir träumen groß: Wir möchten Stammtische oder Vorträge zu dieser Thematik organisieren. Das Projekt lässt so viel Platz für Ideen.“ Wichtig ist den beiden Gründerinnen, dass es keine politische Dimension annimmt. Im Mittelpunkt stehen im aufklärerischen Sinne die Erfahrungsberichte, Daten und Fakten. Die Resonanz ist ausschließlich positiv. Schon nach einem Monat zieht der Account mehr Aufmerksamkeit auf sich als die beiden anfangs erwartet hätten: Die Studentinnen stehen bereits mit verschiedenen Beratungsstellen aus der Region im Kontakt, waren zu Gast beim MDR und erhalten Kooperationsanfragen verschiedener Initiativen. Mittlerweile ist das Team bereits gewachsen. So gründen sie nun mit ihren Mitgliedern einen Verein. Zurzeit ist das Team mit der Planung eines Workshops und einer Ausstellung beschäftigt.

Wer seine Erfahrungen teilen und sich so beteiligen möchte, kann ein Formular auf der Website ausfüllen. Gerne auch anonym.