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Hochtemperaturofen im Einsatz (Foto: shutterstock / gyn9037)
20.01.2021 aus 
Forschung + Transfer
Forschen gegen Verschwendung

Es ist im wahrsten Sinne des Wortes eine riesige Herausforderung: Verfahrenstechniker der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg wollen mit Computersimulationsmodellen bisher schwer kontrollierbare Produktionsverfahren, bei denen mit Partikeln gearbeitet wird, beherrschbar machen – und damit effizienter und umweltbewusster. Gemeinsam mit einem Forschungsteam der Ruhr-Universität Bochum entwickeln sie in dem neuen Sonderforschungsbereich „BULK-REACTION“ erstmals akkurate Berechnungsmodelle für den Einsatz von Energie und Ressourcen bei Produktionsprozessen, die in riesigen Öfen mit extrem hohen Temperaturen ablaufen. „Wir wollen in die Black Box schauen“, sagt Prof. Dr.-Ing. Dominique Thévenin, Co-Sprecher des Forschungsverbundes von der Magdeburger Uni.

Industrie-Reaktoren (c) Shutterstock zhao jiankangDie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Sonderforschungsbereiches wollen Prozesse in großen Industrie-Reaktoren sinnvoll berechnen. (Foto: Shutterstock / zhao jiankang)

Es gibt viele Bilder, Diagramme und Fotos. Grafische Querschnitte von Hochöfen, skizzierte Funktionsweisen und unfassbar große Industrieanlagen sind darauf zu sehen. Abbildungen von Tabletten oder Kaffeebohnen, dazu Partikel-Darstellungen. So etwas legt Prof. Dominique Thévenin auf den Tisch, wenn er über „BULK-REACTION“ – von gasdurchströmten, bewegten Schüttungen mit chemischer Reaktion – spricht. Dieses Thema wird den Inhaber des Lehrstuhls für Strömungsmechanik und Strömungstechnik der Universität Magdeburg künftig eine lange Zeit umtreiben. Im Juni 2020 ist für den von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligten Sonderforschungsbereich / Transregio 287 „BULK-REACTION“ der offizielle Startschuss gefallen. Rund 40 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und der Ruhr-Universität Bochum aus den Ingenieurwissenschaften, der Informatik und der Physik wollen jetzt intensiv forschen und dabei neue Wege gehen. Und auf den Punkt gebracht, machen sie das, um etwas gegen die Verschwendung von Ressourcen zu tun.

Noch viel Trial und Error

Gasdurchströmte, bewegte Schüttungen mit chemischer Reaktion, das sind chemische und physikalische Vorgänge in Partikelsystemen, die bei der Energiespeicherung oder in der Lebensmittel- und Pharmaindustrie genutzt werden. „Wir möchten endlich sehr genaue Modelle entwickeln, mit denen sich der Einsatz von Energie und Ressourcen vermindern lassen“, erklärt Prof. Dominique Thévenin, nach Prof. Viktor Scherer von der Ruhr-Uni, der aktuelle Vize-Sprecher des Projektes. Das klingt vielleicht noch nicht so kompliziert. Komplexer wird das Thema, beim Blick auf die Produktionsprozesse. Die laufen in Hochtemperaturöfen ab. Immens große Anlagen sind das, in denen bis zu 2.000 Grad Celsius herrschen. Der Magdeburger Verfahrenstechniker gibt einen Einblick in die Abläufe: „Bei solchen thermischen Verfahren, wie sie in Öfen bei der Weiterverarbeitung von Erzen, Baustoffen, bei der Produktion von Stahl oder bei der Röstung von Kaffeebohnen oder Trocknung von Tabletten stattfinden, werden die Partikel der Grundstoffe bewegt und von Gasen durchströmt. Die so ausgelösten chemischen Reaktionen sorgen für die Weiterverarbeitung.“ Sein Kollege, Prof. Viktor Scherer, der Sprecher des Verbundes und Inhaber des Lehrstuhls für Energieanlagen und Energieprozesstechnik an der Ruhr-Universität Bochum, beschreibt aus Forschersicht das Problem, das den Umgang mit solchen Prozessen erschwert: „Die Berechnungen der chemischen Reaktionen zwischen den Partikeln und den Gasen haben große Schwächen und sind nur sehr vage. Da ist noch sehr viel Trial und Error.“

Versuchsstand (c) Katja MarquardProf. Dr. Viktor Scherer von der Ruhr-Universität Bochum am Versuchsstand. Er ist Vize-Sprecher des SFBs BULK-REACTION. (Foto: Katja Marquard)

Zum Umgang mit diesen bisherigen ungenauen Berechnungsmöglichkeiten der chemischen Reaktionen sagt der Magdeburger Wissenschaftler: „Wir wissen genau, was in den Ofen hineingeht. Wir wissen ziemlich gut, was herauskommt. Aber wir wollen nun endlich auch hineingucken.“ Bisher seien die Öfen eine „Black Box“, in der das Potenzial der Verfahren nicht ausgeschöpft werden könne. „Prozesse laufen suboptimal und Produkte haben eine schlechtere Qualität als sie vermutlich wirklich besitzen könnten“, so Thévenin. Dazu käme der Aspekt, „dass dabei enorm viel Energie erforderlich ist und endliche fossile Ressourcen verbraucht werden“. Ein Fakt – und ein Antrieb für die Forscherinnen und Forscher. Das Motto ist klar: Hier kann und soll optimiert werden, nicht nur, aber auch, um die Forschung einmal mehr als Triebfeder für Innovation und den Umweltschutz zu nutzen.

Mit Mathematik Vorhersagen treffen

Das Forschen für eine nachhaltige Entwicklung beginnt beim neuen Projekt mit dem sehr tiefen und sehr genauen Blick in diese „schwarze Box“ – den Anlagen mit den immensen Abmessungen. Dafür verfolgen die Forscherteams einen neuen Ansatz: Numerische Berechnungen und computerbasierte Simulationen sollen mit experimentellen Messtechniken verbunden werden, um theoretische Vorhersagen zu prüfen und zu validieren. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Sonderforschungsbereiches wollen für die Analysen der zentralen Prozesse dreidimensionale Simulationen einsetzen, die eine bisher unerreichte Detailtiefe bieten, wie der Co-Sprecher sagt. Sie sind eine der Grundlagen im Projekt. Dazu werden Algorithmen, das heißt Berechnungsmethoden, eingesetzt – keine einfache Sache bei den Partikel-Produktionsverfahren. Die Herausforderung für eine nahezu exakte mathematische Beschreibung von Vorgängen in einem geschlossenen System mit hohen Temperaturen besteht laut Thévenin darin, „die Rechenzeit zu begrenzen, trotz der mehreren Millionen Partikel“. Nur, wenn das gelinge, werde es möglich sein, künftig auch Prozesse in großen Industrie-Reaktoren sinnvoll zu berechnen.

Hochtemperaturofen im Einsatz (c) shutterstock / gyn9037Das 40-köpfige Forschungsteam entwickelt erstmals akkurate Berechnungsmodelle für den Einsatz von Energie und Ressourcen bei Produktionsprozessen, die in riesigen Öfen mit extrem hohen Temperaturen ablaufen. (Foto: Shutterstock / gyn9037)

Weitere Herausforderungen lauern bei den experimentellen Messungen: Sie ergeben sich aus der Hitze dicht gepackter Partikel. „Darum werden wir eher ungewöhnliche Messverfahren einsetzen“, sagt der Verfahrenstechniker und verweist auf Radartechnik oder die Magnetresonanz-Tomografie. „Wir haben eine ganze Palette, die wir zum Einsatz bringen möchten.“ Testen, vergleichen, kontrollieren, ableiten: Das sind die Grundvokabeln für Wochen, Monate und Jahre. Welches Verfahren sich besonders eignet, ist Bestandteil der Forschung. „Für Laien hört sich das zugegebenermaßen zunächst nicht so spannend an, aber wir sind fasziniert davon, was wir herausfinden, belegen und in absehbarer Zeit verändern könnten“, sagt Prof. Dominique Thévenin. Er spricht von „einem sehr komplexen Thema“, das auf die Kompetenzfelder verteilt und damit handhabbar gemacht werde. Alle im 40-köpfigen Team, das teils auch Kieler Kolleginnen und Kollegen begleiten, würden „dafür brennen“. Das Wortspiel des gebürtigen Franzosen verbindet sich treffend mit den heißen Prozessen, beschreibt aber auch, dass zahlreiche Forscherinnen und Forscher, die hier ihre Expertise einbringen, schon lange Zeit am Thema arbeiten und die Grundlagen für das liefern, was in Magdeburg und Bochum jetzt in neue Wege geleitet werden soll.

Die Grundidee, die Forschung überhaupt in dieser Richtung voranzutreiben, ist an der Bochumer Uni entstanden. „Dank unserer guten Kontakte, war es möglich, gemeinsam in die Vertiefung zu gehen“, sagt der Co-Projektsprecher. Die Magdeburger Uni kann hierbei vor allem ihre Erfahrungen im Betrachten und der Analyse von Verfahren und Partikelprozessen einbringen. Der Fortschritt in vielen Bereichen macht es möglich. Ein weiterer Umstand unterstützt das Zukunftsprojekt: „Die Technik hat sich inzwischen so weiterentwickelt, dass solche Simulationen, wie sie nun eingesetzt werden sollen, überhaupt möglich sind“, erklärt Thévenin.  Vor Jahren wäre so ein Vorhaben schlicht an fehlenden Voraussetzungen bei der Darstellung am Rechner gescheitert.

Produktionsverfahren revolutionieren

Was in den nächsten vier Jahren – und möglichst in zwei weiteren DFG-geförderten Phasen – beim „Blick“ in die „Black Box“ herauskommen soll, sind Lösungen, die eine Revolution bei großindustriellen Partikel-Produktionsverfahren werden könnte. Letztlich soll es möglich werden, am Rechner zu optimieren, was in den riesigen Stahlkonstruktionen abläuft. Rechnen, experimentieren, weiterentwickeln. Das ist der Fahrplan in Richtung Zukunft. Was bisher nur einzeln betrachtet werden konnte, wird jetzt im Zusammenhang untersucht. Prof. Thévenin sagt: „In dieser Größenordnung macht das bisher noch niemand außer uns.“ Auch das sei ein Antrieb. „Als Wissenschaftler müssen wir einfach davon getrieben sein, eine Energie- und Ressourcenwende zielführend zu begleiten“, so der Verfahrenstechniker. „Wir müssen an eingeschliffenen Prozessen rütteln.“

Bei „BULK-REACTION“ betrachten die Projekt-Gruppen Prozesse, die teilweise bereits sehr lange etabliert sind, aber auch völlig neue Verfahren im Bereich der Energiespeicherung oder CO2-Abscheidung. „Wir reden hier über traditionelle und neue Verfahren. Um diese nachhaltig zu ändern und neue zu entwickeln, brauchen wir überzeugende Ergebnisse“, sagt Prof. Dominique Thévenin. Nur dann ließe sich ein wichtiges langfristiges Ziel umsetzen.

Prof. Dr.-Ing. Dominique ThéveninProf. Dr.-Ing. Dominique Thévenin ist Co-Sprecher des Forschungsverbundes von der Magdeburger Uni (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

„Eine unserer Haupt-Motivationen für die weitere Prozessentwicklung ist es, den CO2-Fußabdruck zu verkleinern“, erklärt der Co-Sprecher. Und: „Das kann uns nur gelingen, wenn wir alle physikalisch-chemischen Prozesse vollständig verstehen.“ Mit den zu entwickelnden Methoden wollen die Forscherinnen und Forscher in der Lage sein zu sagen: „Was wäre, wenn?“ Was wäre also, wenn man „Stellschrauben“ verändert? Abläufe optimiert? Stoffströme anpasst? Was wäre, wenn man weniger Rohstoffe einsetzt bei gleichbleibender Qualität der Produkte? Was wäre, wenn man flexibel auf Umstände reagieren könnte, wie die Veränderung von Partikeln?

Die Antworten liegen für den Magdeburger Forscher auf der Hand. Dann könne die Qualität der Produkte steigen, der Anteil von Ausschuss sinken, neue Produkte eingeführt, der Energieeinsatz gedrosselt werden. „Das wären doch überzeugende Argumente für die Industrie“, ist sich der Wissenschaftler sicher. Und was wäre, wenn bei „von gasdurchströmten, bewegten Schüttungen mit chemischer Reaktion“ erneuerbare Energieträger, wie Wasserstoff, genutzt werden könnten? Dann wären die Forschungsergebnisse erst recht ein Teil des Wandels, der sich beim Energie- und Ressourceneinsatz vollziehen muss, so Prof. Dominique Thévenin. Zurzeit werden bei den großindustriellen Partikelproduktionsverfahren enorme Mengen fossiler Brennstoffe verbraucht – 17 Prozent des deutschen Energiebedarfs fließen in die „Black Boxen“. In naher Zukunft könnten sie transparenter gemacht werden. Was hineingeht in die Öfen – klar. Was herauskommt – klar. „Und bald wird klarer, was im Inneren passiert und kann transformiert werden“, sagt Thévenin. Auf den Punkt gebracht heißt das eben: Hier wird geforscht gegen die Ressourcen-Verschwendung.

 

Wussten Sie, dass ...

Autor:in: Manuela Bock
Quelle: GUERICKE ´20
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