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29.06.2021 aus 
Forschung + Transfer
Die Rolle der Hausärzte in der Impfstrategie

Um die Corona-Pandemie schneller in den Griff zu bekommen, sind Hausärzt:innen seit Ostern Teil der Impfkampagne und seit Anfang Juni wurde die Impfpriorisierung aufgehoben. Vor welchen organisatorischen und logistischen Herausforderungen die Praxen stehen, wie sie mit verunsicherten Patient:innen umgehen und ob mit dem digitalen Impfausweis die Zukunft in das Gesundheitswesen einkehrt, darüber hat Friederike Süssig-Jeschor, Pressesprecherin der Medizinischen Fakultät der Uni Magdeburg, mit den Ärzten Prof. Dr. med. Markus Hermann und Ulrich Apel gesprochen

Prof. Dr. med. Markus Herrmann leitet das Institut für Allgemeinmedizin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Der Allgemeinmediziner arbeitet als niedergelassener Hausarzt in Berlin und engagiert sich als Impfarzt in einem Impfzentrum.

Ulrich Apel arbeitet als niedergelassener Hausarzt in Wolmirstedt und bildet in seiner Lehrpraxis auch angehende Mediziner:innen der Universität Magdeburg aus. Der Facharzt für Allgemeinmedizin und Palliativmedizin war einer der ersten Hausärzte in Sachsen-Anhalt, die schon frühzeitig an der Impfkampagne gegen das SARS-CoV-2-Virus beteiligt waren.

Zoom-Interview mit Hausarzt Ulrich Apel und Institutsleiter der Allgemeinmedizin Prof. Dr. Markus Herrmann (c) Melitta SchubertUMMDZoom-Interview mit Hausarzt Ulrich Apel und Institutsleiter der Allgemeinmedizin Prof. Dr. Markus Herrmann (Foto: Melitta Schubert / UMMD)

Hausärztinnen und Hausärzte sind seit Ostern Teil der Impfkampagne. Warum ist das so wichtig?

Prof. Herrmann: Hausärzte haben die meisten Erfahrungen mit Impfungen, weil es zu ihrem Kerngeschäft gehört. Darüber hinaus stehen sie häufig in einer langjährigen Beziehung zu ihren Patientinnen und Patienten und haben dadurch auch eine besondere Vertrauensbeziehung zueinander. Dies spielt besonders bei unsicheren und ängstlichen Patienten eine Rolle. Die Impfung gegen das Corona-Virus ist ja über Monate hinweg das Thema Nummer eins in vielen Medien und wir beobachten, dass die nicht immer sachliche Darstellung der Risiken sehr viele Menschen beschäftigt und verunsichert. Ich denke, dass der eigene Hausarzt aufgrund seines Vertrauensverhältnisses – anders als ein anonymer Impfarzt – wichtige Fakten zu den Risiken deshalb besser adressieren kann. Wichtig ist auch, dass Hausärzte ja in der Regel wohnortnah sind.

Herr Apel, mit Ihrer Praxis in Wolmirstedt sind Sie derzeit für wieviel Patientinnen und Patienten zuständig?

Ulrich Apel: Wir sind aktuell bei etwa 1.600 Patientinnen und Patienten und können sagen, dass mit der Einbeziehung der Hausärzte in die Impfstrategie die Inanspruchnahme der hausärztlichen Kolleginnen und Kollegen weiter zugenommen hat. Es ist ein niedrigschwelliger Zugang in die Hausarztpraxen und wir nehmen uns selbstverständlich die Zeit, Fragen zu klären. Viele Patienten kenne ich schon seit über 20 Jahren und weiß natürlich, wie sie ticken. Wir können viele Ängste nehmen und erklären Hintergründe, die der Patient nicht auf dem Schirm hat.

Die Impfpriorisierung ist mit dem 7. Juni aufgehoben wurden. Was bedeutet diese Entscheidung für die Hausärztinnen und Hausärzte?

Prof. Herrmann: Ich denke, diese Entscheidung wird sehr kontrovers diskutiert. Ich selbst habe mehrfach in einem Impfzentrum in Berlin gearbeitet, wo täglich zwischen 3.500 und 4.500 Menschen geimpft wurden. So ein Zentrum hat natürlich ganz andere logistische Möglichkeiten durch Unterstützung von Maltesern, Feuerwehrleuten und auch Einsatzkräften der Bundeswehr, anders als es in der Regel in der hausärztlichen Praxis möglich ist.

Ulrich Apel: Wir haben als eine der ersten Modellpraxen in Sachsen-Anhalt schon im Februar begonnen zu impfen. Das waren für uns gute Trainingsbedingungen, in denen wir aber auch viel lernen mussten. Die Lage hat sich für uns teilweise täglich rasant-dynamisch entwickelt. Wir wussten, dass die Aufhebung der Priorisierung noch einmal einen stärkeren Organisationsaufwand bedeutet. Die Priorisierung war ja eher ein Instrument für die Verwaltung des Impfstoffmangels. Mir ist die Begrifflichkeit einer medizinischen Priorisierung anders verständlich. Die Abläufe in der Praxis sind inzwischen routiniert und die Patienten sind auch ruhiger. Die Anzahl der PCR-Tests ist stark rückläufig, sodass mehr Zeit zum Impfen bleibt. Gedanken machen wir uns gerade sehr um die Influenza-Impfungen, die mit den Corona-Impfungen parallel laufen werden. Mal sehen, wie die Grippe Impfungen angenommen werden.

Die jetzt geltenden Lockerungen für Geimpfte machen die einen euphorisch – und andere wütend. Erleben Sie so etwas wie Impfneid?

Ulrich Apel: Einen richtigen Impfneid kann ich nicht feststellen. Selbstverständlich versucht jeder für sich, einen Termin zu organisieren und betont seine chronischen Erkrankungen, um vielleicht in eine bestimmte Priogruppe hineinzukommen. Ich habe beispielsweise noch nie so viele pflegende Angehörige erlebt! Aber mit diesen Patientinnen und Patienten haben wir ganz vernünftig und sachlich gesprochen.

Prof. Herrmann: Für mich gibt es nicht nur die Neiddiskussion, sondern es gibt schon eine gewisse Skepsis. Die war zu Anfang natürlich größer, als sie jetzt ist. Sicher hat auch die Verknappung der zur Verfügung stehenden Impfdosen dazu geführt, dass die Begehrlichkeiten nach Impfungen gestiegen sind. Für die meisten meiner Patientinnen und Patienten war es aber bis dato nachvollziehbar, dass es die Priorisierung gibt. Ich glaube, dass die gesamte Gemengelage und wie Uli Apel schon sagte, die sich zum Teil täglich ändernde Lage aufgrund von Lieferengpässen oder auch der vorzeitigen Aufhebung der Priorisierung bei dem Impfstoff von AstraZeneca verständlicherweise zu einem großen Verdruss gegenüber der Politik und Entscheidern geführt hat.

Sie bekommen den Vertrauensverlust zu spüren. Wie gehen Sie damit um?

Prof. Herrmann: Das ist ein wichtiger Punkt. Gerade bei uns Hausärzten ist es das tägliche Brot, mit Unbestimmtheit und Unsicherheit umzugehen. Wir müssen ja auch Entscheidungen treffen, ob jemand stationär aufgenommen werden muss, ob eventuell Bauchschmerzen akut bedrohlich sind oder abgewartet werden kann. Wir haben immer einen Rest Unsicherheit und das gehört auch dazu. Es gibt bereits vieles, was über das SARS-CoV-2-Virus oder die Wirkung der Impfstoffe bekannt ist. Aber ich weiß auch, dass wir vieles eben noch nicht wissen. Das können wir aber weder der Forschung, noch der Politik, noch der Medizin vorhalten. Aber trotzdem müssen die Patientinnen und Patienten mit mir zusammen eine Lösung finden.

Prof. Herrmann (c) Felix MeyerProf. Hermann versucht im Gespräch mit seinen Patient:innen Unsicherheiten zu nehmen (Foto: Felix Meyer)

Welche Rolle spielen Impfungen für die öffentliche Gesundheit (Public Health)?

Prof. Herrmann: Hier bewegen wir uns in einem Grenzbereich. Wir haben einerseits als Hausärzte ja sehr viele Erfahrungen mit Impfungen im Sinne der Primär-Prävention, aber es gibt ja auch den Impfschutz, der nicht nur für einen persönlich gilt, sondern auch der Impfschutz, der für die Bevölkerung da ist. Ein Beispiel: Wenn ich einem älteren Menschen mit einer Lungenerkrankung z.B. eine Impfung gegen Pneumokokken anbiete, dann zielt es ja darauf ab, dass ich ihn schützen will, damit er im Winter keine Pneumokokken-Infektion bekommt, sich seine Lungenfunktion verschlechtert und er daran stirbt. Bei der SARS-CoV-2-Impfung geht es ja vor allem darum, auch andere zu schützen – nach dem Prinzip der sogenannten Herdenimmunität. Im Grunde ist das dann die Public Health-Perspektive und dafür wäre eigentlich, strenggenommen, nicht die Hausärzteschaft zuständig. Das wäre eine Aufgabe des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD), da wir hier in Deutschland traditionell eine Trennung zwischen öffentlicher Gesundheit und der auf das Individuum zugeschnittenen hausärztlichen Perspektive haben. In anderen Ländern ist es anders, da gibt es auch stärker auf die Gemeinschaft ausgerichtete Aspekte in der hausärztlichen Medizin. Allerdings, und dies wurde auch in der Krise deutlich, wurde der ÖGD in den letzten 20 Jahren von der Politik kaputtgespart. Es gab zu wenig Stellen, sie wurden schlecht bezahlt und konnten nicht besetzt werden. Mit der Folge, dass gerade jetzt, für die Nachverfolgung von Ansteckungen der ÖGD kein Personal hat. Somit sind wir im Prinzip als Hausärzte gezwungen bzw. gefordert, diese Bevölkerungsperspektive auch mit zu übernehmen.

Ulrich Apel: Glücklicherweise gibt es nicht jedes Jahr eine Pandemie und bei logischer Betrachtung war es klar, dass es in solch einer Situation im derzeitigen Öffentlichen Gesundheitsdienst zu erheblichen Verwerfungen kommt. Das ist keine anspruchsvolle Denkaufgabe, dennoch real. Es ist einfach wichtig, dass der Öffentliche Gesundheitsdienst in guten wie in schlechten Zeiten funktioniert.

Neben den Impfzentren haben auch die Hausärzte die Beschaffung und Verteilung des Impfstoffes beklagt. Wie genau läuft das ab?

Ulrich Apel: Als Modellpraxis wurden die Impfstoffe zu Beginn noch über die Impfzentren bereitgestellt. Ich darf sagen, dass die Zusammenarbeit mit dem Impfzentrum in Haldensleben im Landkreis Börde sehr gut funktioniert hat. Wir hatten sogar eine freie Wahl und konnten BioNTech und AstraZeneca, je nach Kapazität, bestellen. Der Impfstoff wurde dann durch die Bundeswehr gebracht. Am Abend haben wir dann die Zahlen an das Gesundheitsamt gemeldet. Der Informationsaustausch hat gut funktioniert. Nachdem dann die Hausärzte kurz nach Ostern offiziell Teil der Impfkampagne wurden, lief die Beschaffung der Impfstoffe über die Kassenärztliche Vereinigung. Auch dort ist der Prozess ordentlich organisiert. Über eine spezielle geschützte Software können wir gewünschte Mengen von AstraZeneca, BioNTech und mittlerweile auch Johnson&Johnson bestellen. Das Ganze läuft immer mit einer Woche Vorlauf. Wieviel Impfstoff wir dann aber schlussendlich bekommen, sehen wir tatsächlich erst bei der Lieferung. Das ist natürlich misslich und erschwert unsere Planungen. Wir sind immer wieder gezwungen, Patientinnen und Patienten abzubestellen oder kurzfristig einzubestellen. Da geht natürlich viel Arbeitszeit verloren. So ein Chaos in die Praxen zu tragen, hat wirklich keine Medaille verdient.

Das heißt also, dass Sie bisher nie die bestellte Menge geliefert bekommen haben?

Ulrich Apel: Das ist tatsächlich so.

Prof. Herrmann: Wir haben in Berlin zudem das Problem, dass wir derzeit mit den Impfstoffmengen von BioNTech gerade mal die notwendigen Zweitimpfungen durchführen können und damit die Kapazitäten, um neue Patientinnen und Patienten zu impfen, damit erheblich begrenzt sind. Das sind ganz wesentliche limitierende Faktoren, dass deutlich weniger Impfstoff zur Verfügung gestellt wurde, als es zu Anfang den Anschein hatte.

Welche Rolle haben nach Ihrer Auffassung noch die Impfzentren? Immerhin haben Bund und Länder mehrere Milliarden Euro in den Aufbau dieser Zentren investiert.

Ulrich Apel: Ich bin der Auffassung, dass in einer Pandemiesituation die Verteilung auf viele Schultern der richtige Weg ist. Auch hier haben wir zweifellos wieder eine dynamische Entwicklung: Der Gesetzgeber sagt, ich installiere Impfzentren mit einer starken Logistik im Land und beginne damit besonders gefährdete Teile der Bevölkerung zu impfen, um dann mit der Zeit alle anderen mit ins Boot zu nehmen – die Haus- und Betriebsärzte und nach aktueller Diskussion, auch die Kinderärzte. Wenn diese Strukturen nicht wären, wir könnten es alleine in den hausärztlichen Praxen nicht schultern und ich glaube auch, dass das den Verantwortlichen bewusst ist.

Prof. Herrmann: Es hängt natürlich auch damit zusammen, dass zu Anfang eine ganz hohe Erwartung geweckt wurde, aber zu wenig Impfstoff zur Verfügung gestellt wurde und man daher so gefordert war, die Priorisierung vorzunehmen und bei den Impfungen dann auch schnell zu sein. Dieser Druck hat auch gerade das eher traditionelle hausärztliche System überfordert. Deswegen war es auch so notwendig, die zentralen Impfstellen zu schaffen. Das kann im Herbst schon wieder ganz anders aussehen. Wenn dann bestimmte Auffrischungen notwendig sind und man sich auch auf ganz bestimmte, besonders gefährdete Patientengruppen konzentriert, so wie es auch beim Grippeschutz gilt. Dann kann es sehr wohl auch verstärkt über die Hausarztpraxen laufen.

Wie müssen wir uns den logistischen und organisatorischen Aufwand für die Praxen vorstellen? Wie bewältigen die Praxen die hohe Nachfrage nach Impfterminen?

Ulrich Apel: Im Prinzip benötigt man nur einen medizinischen Kühlschrank, der gehört aber zur Standardausstattung jeder Praxis. Wir hatten alle sehr großen Respekt vor dem BioNTech-Impfstoff mit einer Tiefkühlung bei Minus 70 Grad in den Apotheken. Der Impfstoff hat sich dann in der Handhabung aber nicht groß von den anderen unterschieden. Oft wird von den Kolleginnen und Kollegen beklagt, dass der Impfstoff nicht in Einzelspritzen im Kühlschrank lagerbar zur Verfügung steht. Die Spritzen müssen morgens aufgezogen werden, auch wieder ein zeitlicher Aufwand. Die Aufklärungsbögen sind zu kompliziert und überfordern viele Patienten, sodass das Aufklärungsgespräch noch länger dauert. Letztlich bleibt diese Arbeit bei den Medizinischen Fachangestellten, die eine ganz hervorragende Arbeit machen, hängen. Aber sie zeigen auch Ermüdungsanzeichen. Es steigen sogar schon Praxen aus den Impfungen aus. Sie möchten die Erstimpfung nicht mehr vornehmen, sondern nur noch die Zweitimpfung, da das Personal sonst ausbrennt. Ich kann deutlich sagen, dass der Aufwand für zwei volle Kräfte reicht, die wir aber nicht haben. Das machen die Kolleginnen nebenbei und davor habe ich großen Respekt.

Welchen Anteil machen die Impfungen im Tagesgeschäft aus und wonach entscheiden Sie, wer einen Termin bekommt?

Ulrich Apel: Gefühlt ist es die Hälfte der Arbeitszeit. Mit dem Ausfüllen der Formulare, dem Aufklärungsgespräch und der Nachbeobachtung der Patientinnen und Patienten kann man von zirka 30 Minuten pro Patient ausgehen. Davon dauert die eigentliche Impfung nur 2 Minuten. Grundsätzlich sind wir nach der Priorisierung vorgegangen. Manchmal entscheidet es sich aber auch innerhalb von Minuten, ob ein Patient eine Impfung bekommt. Bei Restdosen, die durch Absagen noch übriggeblieben sind, rufen wir dann Personen an, die auf einer Warteliste stehen oder wir fragen jemanden im Wartezimmer. Diejenigen haben dann Glück, dass sie einspringen konnten.

Was ist die häufigste Frage bezogen auf die Impfungen?

Prof. Herrmann: Oft wird zuerst gefragt, welchen Impfstoff bekomme ich. Hierzu muss ich auch kritisch anmerken, dass durch die oftmals dramatisierende und emotionalisierende Darstellung in den Medien grundlegende Fakten schlichtweg nicht mehr wahrgenommen werden. So war plötzlich die Angst vor einer Hirnvenenthrombose größer, als im Straßenverkehr zu verunfallen und dieses Risiko ist deutlich höher. Dann gibt es oft Fragen zu möglichen Nebenwirkungen oder wie man sich verhalten soll, wenn Beschwerden auftauchen. Hier ist es mir wichtig, den Impfinteressierten deutlich zu machen, dass die körperliche Reaktion in Form von Kopfschmerzen, Fieber, Mattigkeit und grippalem Gefühl zeigt, dass das Immunsystem arbeitet und auf den Impfstoff reagiert. Jetzt, wo nach 14 Tagen der Zweitimpfung der Vollschutz auch bestimmte Freiheiten wieder zurückgibt, wird recht oft nach einem frühen Termin für die zweite Impfung gefragt.

Einige Hausärzte klagen über zu viel Bürokratie beim Impfen. Was muss besser laufen?

Prof. Herrmann: Dokumentation ist grundsätzlich wichtig, vor allem zu möglichen Risiken, zumindest soweit sie bekannt sind. Dabei spielen vor allem juristische Aspekte zu Themen wie Haftung und Risiken eine große Rolle. Aber all das erfordert natürlich auch Zeit, in der ich mich dann nicht um Patientinnen und Patienten kümmern kann. Hier bietet die Infrastruktur in den Impfzentren wieder Vorteile. Dort sind es die vielen Helfer, die alles vorbereiten, abfotografieren und dokumentieren, sodass ich mich als Impfarzt nur um die Fragen und Sorgen der Impfgäste kümmern kann.

Ulrich Apel: Ich bin mir fast sicher, dass wir aus der komplizierten Situation im nächsten Jahr herauskommen, es wird routinierter. Es ist gerade alles noch neu in der Pandemie, die Strukturen müssen ineinandergreifen, es ist ein lernendes System. Ich hoffe das jedenfalls. Wir werden es dann wahrscheinlich ähnlich wie eine Grippeimpfung machen können. Es werden jetzt noch Daten gesammelt. Das ist ganz normal.

Was genau müssen Sie erfassen und was passiert mit den Daten?

Ulrich Apel: Erfasst werden muss zum Beispiel die Chargennummer, welcher Arm geimpft wurde oder die Körpertemperatur etc. All diese Dinge, die für das Aufarbeiten einer Komplikation notwendig sind, werden dann tagesaktuell übermittelt. Wir ergreifen dabei die Initiative und fragen bei unseren Patienten gezielt nach, wie die Impfung vertragen wurde – und bisher wurden uns keine schlimmeren Auffälligkeiten gemeldet.

Wie gehen Sie mit Patientinnen und Patienten um, die nur einen bestimmten Impfstoff bekommen wollen?

Ulrich Apel: Natürlich wird jeder Impfstoff von uns beschrieben und wir schauen uns die individuelle Situation des Patienten, auch in seiner Krankheitsgeschichte genau an. Sie oder er muss wissen, dass es ein Risiko für eine Hirnvenenthrombose gibt, selbst wenn das Risiko sehr klein ist und dass er sich sofort melden sollte, sobald Kopfschmerzen länger als 1 bis 2 Tage anhalten. Wenn man sachlich mit den Patienten redet, sie ordentlich aufklärt, findet man eine Lösung. Wenn jemand unbedingt einen bestimmten Impfstoff möchte, muss man sehen, ob dieser vorrätig ist.

Hausarzt Ulrich Apel (c) Melitta Schubert UMMDHausarzt Ulrich Apel nimmt sich die Zeit, um seine Patient:innen über die Risiken einer Impfung aufzuklären - auch wenn diese sehr gering sind (Foto: Melitta Schubert / UMMD)

Gibt es Patientinnen oder Patienten, denen Sie aktuell von einer Impfung abraten würden?

Prof. Herrmann: Wenn jemand in den letzten 14 Tagen eine Impfung bekommen hat, würde ich mit der Impfung zunächst noch warten. Schwangere würde ich aufgrund der geringen Datenlage ebenfalls noch nicht impfen wollen, genau wie Patienten mit einer Prednisolonmedikation über eine bestimmte Dosis, die also mit einer Art Cortison behandelt werden, z.B. bei einer rheumatischen Arthritis. Denn, wenn das Immunsystem unterdrückt ist, ist noch unklar, ob die Betroffenen überhaupt eine Immunreaktion entwickeln oder ob es sogar eine Gegenanzeige darstellen könnte. Und wenn natürlich jemand Krankheitszeichen wie Fieber oder einen Infekt hat, dann möchte ich auch nicht unbedingt impfen.

Als Ergänzung zu dem bekannten gelben Impfausweis gibt es seit dem 14. Juni nun auch einen digitalen Impfnachweis. Was halten Sie von dem Angebot, was steckt dahinter und wie läuft die Umsetzung in Ihrer Praxis?

Ulrich Apel: Es gibt grundsätzlich den gelben Internationalen Impfausweis, in dem alle Impfungen dokumentiert sind. Dieser sollte überall akzeptiert werden. Der digitale Impfnachweis wird bei uns selten nachgefragt. Ich denke, die Leute gehen in die Apotheken. Bei uns steht der digitale Nachweis nicht ganz oben auf der Agenda. Die in der Corona-Zeit neu verursachten und vernachlässigten Gesundheitsprobleme werden uns noch zu schaffen machen.

Die Pandemie hat vieles in Sachen Digitalisierung beschleunigt, auch im Gesundheitswesen. Wo stehen deutsche Hausarztpraxen und wie stellen Sie sich ganz persönlich die Hausarztpraxis der Zukunft vor?

Prof. Herrmann: Wenn ich mir die Generation anschaue, die jetzt ihr Studium beginnt oder abgeschlossen hat und in die Weiterbildung geht, dann ist abzusehen, dass diese anders arbeiten wollen, als ihre Eltern oder Großeltern. Die Zukunft wird nach meiner Auffassung den Teampraxen gehören, weil sie auch gerade jüngeren Kolleginnen und Kollegen eine gute Work-Life-Balance bieten. Vor ein paar Jahren haben wir dazu versucht mit anderen Akteuren ein starkes gemeindebezogenes Primär-Versorgungszentrum unter Einbeziehung auch anderer Gesundheitsberufe aus der Pflege oder der sozialen Arbeit zu entwickeln. Wir haben uns hierzu auch Projekte in Kanada angeschaut, die bereits viel weiter sind. Dabei wird immer auf deutlich mehr Autonomie der einzelnen Gemeinden für die Absicherung der Versorgungsstrukturen gesetzt. Ich hoffe, dahin geht die Entwicklung und es gibt auch bereits einige Bundesländer, die ein Stück weiter sind, die solche Zentren entwickelt haben. Das wäre eine Vision, in der auch andere Gesundheitsberufe, aber auch psychosoziale und soziale Angebote aus der Gemeinde sehr viel stärker auch digital integriert werden können. Das kann auch hilfreich sein, um in ländlichen Regionen dem Hausarztmangel entgegenzuwirken.

Das heißt also, Sie schließen nicht aus, dass digitale Angebote bald zum Standard gehören werden?

Prof. Herrmann: Ja, ich muss sagen, da ich auch zum Teil therapeutisch in meiner Praxis arbeite, habe ich eine Weile ein paar meiner Patientinnen und Patienten nur per Video gesehen. Ich kann, was meine universitäre Arbeit betrifft via ZOOM Teambesprechungen führen, Seminare abhalten und sogar Studierende im Praktischen Jahr digital in den Lehrpraxen zuschauen, wie sie mit Patientinnen und Patienten sprechen. Das ist eine Entwicklung, die ich in der Praxis sehr wohl integriert habe und ich gehe hier auch davon aus, dass es in Zukunft, auch über die Pandemie hinaus, ein weiterhin bestehender Teil der Praxis sein wird.

Ulrich Apel: Ich habe einen großen Fernseher in meiner Praxis und bin auch super vorbereitet auf die Videosprechstunde. Aber niemand möchte es. Die Videosprechstunde hat in den Fachbereichen der sprechenden, therapeutischen Medizin sicher eine große Bedeutung. Wir scheitern aber in der Videosprechstunde am Verständnis mancher Patienten. Deshalb glaube ich, dass eine digitale Videosprechstunde niemals die Arzt-Patienten-Beziehung dominieren wird. Sie kann in der Praxis eine gute Ergänzung sein, meine Erfahrung zeigt aber, dass sie in der Allgemeinmedizin noch nicht der große Erfolg ist.

Digitalisierung macht grundsätzlich natürlich absolut Sinn, sie darf nur nicht zu kompliziert werden. Ich habe die Anzahl der immer wieder neu anzuschaffenden Lesegeräte und Computer/Konnektor-Updates nicht mehr gezählt. Hinzukommt, dass wir eine Menge älterer Patienten haben, die dann erstmal ihre PIN suchen müssen. Zudem haben wir nach wie vor noch eine parallele Struktur zwischen Papier und der elektronischen AU-Bescheinigung und Übermittlung an die Krankenkasse. Es ist für uns eine Frage von Aufwand und Nutzen. Digitalisierung ist ein Prozess, der am ,Ende‘ hoffentlich auch eine effiziente Versorgung möglich macht.

Prof. Herrmann: Wir wollen mit einem kleinen Projekt beginnen, in dem es um neue Versorgungsformen geht. Aus der Erfahrung der Pandemie heraus möchten wir einen digitalen Qualitätszirkel für Hausärzte und Hausärztinnen überregional für die Länder Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Berlin anbieten. Bisher sind Qualitätszirkel sehr lokal begrenzt. Wir wissen aber auch, dass sich gerade auch in diesem Bereich die Digitalisierung als Möglichkeit sich auszutauschen, auch über eine große Entfernung, etablieren ließe. Gerade der Austausch über die Erfahrung in der Pandemie oder der Austausch mit Kollegen und Kolleginnen, wie bestimmte Patientengruppen darauf reagieren, sind die Fragen, die uns jetzt beschäftigen. Dabei sind es vor allem nicht nur die Infektionsbezogenen Fragen, sondern ich habe auch viele Patientinnen und Patienten, die von indirekten gesundheitlichen Problemen, z.B. durch Doppelbelastungen wie Homeoffice, Homeschooling, Vereinsamung, Ängste, häusliche Gewalt und andere psychosozialen Probleme wie drohende Insolvenzen oder auch die berufliche Frage, wie es jetzt nach der Pandemie weitergeht, berichten. Insofern ist die Pandemie für mich mehr als nur die Frage der Häufigkeit und generellen Testung oder Impfung, sondern aus der Perspektive einer ganzheitlichen Betreuung zu betrachten.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

Autor:in: Friederike Süssig-Jeschor