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20.06.2022 aus 
Forschung + Transfer
Die Geschichte der Flucht

Weltweit hat sich die Zahl der Vertriebenen in den letzten zehn Jahre verdoppelt – Ende 2021 waren rund 90 Millionen Menschen auf der Flucht. Das sind so viele wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Geschichtswissenschaftlerin Stefanie Fabian kennt die historischen Gründe für Flüchtlingsströme. Im Interview sprach sie darüber, was die Menschheit aus der Vergangenheit gelernt hat und ob sich die Fluchtursachen verändert haben.

Portrait Stefanie Fabian (c) Jana Dünnhaup Uni Magdeburg 

Gibt es eine allgemeingültige Definition was Flucht ist?

Eine allgemeingültige Definition ist schwierig. Man muss immer den Kontext berücksichtigen. Runtergebrochen ist Flucht eine räumliche Bewegung als Reaktion auf angedrohte oder tatsächlich erlittene Gewalt; im Kontext von Kriegen zum Beispiel. Das kann eine unmittelbare Reaktion sein auf eine lebensbedrohliche Zwangslage oder eine mehr oder weniger geplante Migration, um sich einer permanenten Bedrohungssituation zu entziehen. Flucht kann aber auch als Zwangsmigration vor indirekten Kriegs- und Gewalttaten verstanden werden; zum Beispiel auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen. Wenn sich die Menschen einer schlechten Lebenssituation entziehen möchten, dem Hunger entkommen möchten oder Repressalien aufgrund des Geschlechts, der Religion oder der Ethnie erleiden.

Flucht ist kein neues Phänomen. Wann gab es die ersten Flüchtlingsströme?

Flucht gab es erst, nachdem die Menschen sesshaft geworden sind, also so ungefähr vor 12.000 Jahren, als die Menschen das erste Mal „Gründe“ hatten Krieg zu führen – also, wenn wir Krieg als eine der hauptsächlichen Fluchtursachen ansehen. In dieser Zeit bauten die Menschen Besitzstand und Hierarchien auf. In Folge dessen kam es zu Kriegen und somit auch zu den 1. Flüchtlingsströmen. Auch in der Bibel oder von antiken Autoren werden bereits Fluchtsituationen aufgeführt, die schon viele 1.000 Jahre alt sind.

Was sind denn historisch gesehen die häufigsten Gründe, warum Menschen fliehen?

Krieg und Gewalt sind ganz elementare Gründe, warum Menschen ihren Ursprungsort verlassen müssen. Das hat sich im Verlauf der Geschichte nicht verändert. Seit der frühen Neuzeit spielt auch die Religion eine große Rolle, denn da begann die Ausbildung der territorialen Staatlichkeit und die Vorstellung, dass für die Erhaltung des Friedens ein homogener Untertanenverband besonders wichtig sei. Es gab zahlreiche Bestimmungen, die von Andersgläubigen eine Konversion einforderten oder sie andernfalls zwang, das Land zu verlassen. Ende des 15. Jahrhunderts gab es in Spanien zum Beispiel das sogenannte Alhambra-Edikt, das sämtliche Juden unter der Herrschaft der spanischen Könige dazu zwang, zu konvertieren oder das Land zu verlassen. Ein weiteres Ereignis mit Fluchtursachenpotential war die Reformation. Mit dem Augsburger Religionsfrieden wurde die Bikonfessionalität des Heiligen Römischen Reiches festgeschrieben. Die Landesherren hatten das Recht, die Religion ihrer Untertanen zu bestimmen. Wer nicht konvertieren wollte, musste sein Hab und Gut verkaufen und das Leben, was er bis dahin geführt hatte, aufgeben.

In der Zeit, in der sich die Ausdifferenzierung der einzelnen Konfessionen abspielte, haben sich unzählige Menschen in Bewegung gesetzt. Nach der Reformation folgte das Zeitalter der Glaubenskriege, zum Beispiel der 30-Jährige Krieg. In dieser Zeit begaben sich Tausende von Menschen auf die Fluchr, mit dem Ziel woanders aufgenommen zu werden, weil sie aus den angestammten Territorien vertrieben wurden, weil sie nicht der Mehrheitskonfession angehörten. Dazu zählen ebenso Täufer, Hutterer und Mennoniten wie die Böhmen oder die Salzburger.

Aber auch schlechte Lebensbedingungen treiben die Menschen immer wieder in die Flucht, wie zum Beispiel die große Hungerkrise in Irland, durch die sich Millionen Iren auf den Weg nach Amerika gemacht haben. 1848 bis 1852 gab es die sogenannte Kartoffelfäule, also eine Seuche, die die Kartoffeln hat verfaulen lassen. Die Kartoffel war das Hauptnahrungsmittel für die ärmere Bevölkerung. Durch die Fäule sind viele Menschen verhungert. Darum haben sich die Iren unter unwürdigsten Bedingungen auf sogenannten schwimmenden Särgen – so hat man die Schiffe genannt – auf den Weg in die Vereinigten Staaten gemacht. Auch damals haben schon Schlepper ihr Geld mit der Not der Menschen verdient und schlechte Schiffe zur Verfügung gestellt.

Wie wurden diese Geflüchteten wahrgenommen und wie wurde mit ihnen umgegangen?

Da muss man sich die Situation im Einzelfall anschauen. Im 30-Jährigen Krieg gab es massenhaft Flüchtlingsbewegungen; häufig waren das kleinräumige Binnenfluchten – die Menschen wollten vor heranrückenden Soldaten hinter Stadtmauern Schutz finden. Wenn man also das Gerücht hörte, es würden sich Soldaten nähern, dann machten sich ganze Ortschaften auf, um in die nächstgrößere Stadt zu ziehen und dort Schutz zu suchen. Das konnte die Städte an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit bringen, weil sich zum Teil doppelt so viele Leute in den Orten aufhielten wie vorher. Das brachte viele Problemen mit sich: Die Flüchtenden mussten untergebracht werden, sie mussten verpflegt werden. Die hygienischen Bedingungen waren natürlich noch schlechter als vorher. Es waren aber keine Fremden im eigentlichen Sinne, sondern Leute aus der Umgebung und darum gab es keinen Culture Clash, was heutzutage oft ein Problem ist. Die Flüchtlinge wurden damals zu allen Dingen verpflichtet, zu denen Einheimische auch verpflichtet waren: Sie mussten gewisse Gelder abgeben, sie mussten sich an bestimmten Aufgaben beteiligen, zum Beispiel Wache stehen oder das Vieh austreiben. Darum gab es keine Integrationsschwierigkeiten.

Anders sieht es mit den Glaubensflüchtlingen aus, beispielsweise den protestantischen Hugenotten, die aus dem katholischen Frankreich fliehen mussten. Sie waren kundige Handwerker und wurden natürlich sehr gerne aufgenommen. Es gab Länder, die sich regelrecht um die französischen Emigranten beworben haben. Auch Magdeburg hat größere Kolonien aufgenommen und mit den Vorzügen der Stadt geworben. In Preußen wurden ihnen beispielsweise weitreichende Privilegien, besondere Rechte und Steuererleichterungen zugestanden. Das führte natürlich zu Konflikten, weil sie Konkurrenten für die hiesigen Handwerker waren. Das hatte weniger mit kulturellen Anfeindungen zu tun, sondern mehr mit Existenzängsten.

Wir sind es heute gewöhnt, dass die Menschen nach Deutschland flüchten, aber es gab auch Zeiten, als die Menschen aus Deutschland geflüchtet sind?

Wenn wir Flucht als Zwangsmigration betrachten, um die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern, dann gab es Ende des 18. Jahrhunderts und verstärkt bis Mitte des 19. Jahrhunderts sehr große Auswanderungswellen von Deutschen in die USA und nach Südamerika. Die Gründe dafür waren vielfältig: die beginnende Industrialisierung, durch die ganze Berufszweige wegfielen und damit eine große soziale Unsicherheit einher ging. Es gab Hungersnöte, die die Menschen dazu veranlasst haben, Deutschland den Rücken zu kehren. Und es gab Menschen, die aus politischen oder religiösen Gründen das Land verlassen haben, weil sie sich im Land der unbegrenzten Möglichkeiten mehr Toleranz erhofften.

Ukrainische Frau auf der Flucht hält ihr Kind am Grenzübergang in den Armen (c) Shutterstock HalfpointEine ukrainische Frau auf der Flucht hält ihr Kind am Grenzübergang in den Armen (Foto: Shutterstock / Halfpoint)

Die Personengruppen, die meist zu den Flüchtenden gehören, sind Kinder und Frauen, war das schon immer so?

Aus meiner Forschung kann ich sagen, dass es nicht nur Frauen und Kinder sind, die sich auf die Flucht begeben, sondern ganze Familien. Was man allerdings sagen kann, ist, dass Frauen und Kinder zu den besonders vulnerablen Gruppen gehören, die bei der Flucht am ehesten sterben. Da gibt es Untersuchungen zu den Fluchtbewegungen, die das deutlich zeigen – beispielsweise bei den Überfahrten in die Vereinigten Staaten. Gegangen sind also alle gemeinsam, aber die Überlebenschancen waren nicht gleich.

Flucht ist immer eine Überlebensstrategie – was können wir darüber aus der Geschichte lernen?

Flucht sieht auf den ersten Blick nach Ohnmacht aus. Flucht ist oftmals aber der Versuch, sich einer Bedrohungslage zu entziehen, um eine gewisse Handlungsmacht beizubehalten, ein Stück des Besitzstandes zu retten und das Leben der Familie und das eigene. Das war damals die Motivation für Menschen, eine Flucht in eine ungewisse Zukunft anzutreten. Und das ist dasselbe wie heute auch noch. Menschen verlassen auch heute noch ihre Heimat, ihr soziales Netz, weil sie versuchen wollen, ihre Handlungsmacht zu erhalten. Da ist viel Ungewissheit dabei.

Bei der Analyse historischer Fluchtbewegungen zeigt sich darum – wie auch heute – dass den Menschen ein Netzwerk sehr wichtig ist. Die Hugenotten hatten beispielsweise ein großes Netzwerk an Unterstützern. Es gab damals europaweite Spendenaktionen, um diese Flüchtlinge zu unterstützen. Und auch damals waren die Gründe, warum Menschen in eine bestimmte Region flüchten, dass sie dort Anknüpfungspunkte hatten. Auch das hat sich nicht geändert. Die ukrainischen Flüchtlinge gehen zum Beispiel vor allem nach Deutschland und Polen, weil es dort schon eine ganz starke ukrainische Community gibt, weil sie dort Verwandte oder Freunde haben. Das erleichtert das Ankommen und die Integration.

Ob sich die Geschichte wiederholt oder nicht, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Aber man kann schon sagen, dass es gewisse Tendenzen gibt, die immer wieder zu finden sind. Krieg und Gewalt sind beispielsweise noch immer die größten Fluchtursachen, oft in Kombination mit religiösen Schwierigkeiten. Es ist noch immer so, dass die Menschen das Gefühl haben, sie können an dem Ort, an dem sie eigentlich leben, nicht mehr bleiben.. Das sind Tendenzen, die man in allen Jahrtausenden ausmachen kann; die sich wiederholen.

Im Prinzip kann man die Erkenntnis ziehen, die eigentlich schon jeder weiß, aber die irgendwie an der menschlichen Natur scheitert: Das Beste, um Flucht und Vertreibung zu verhindern, wäre, den Frieden zu sichern. Das ist eine Erkenntnis, die schon sehr alt ist. Der Frieden war immer ein besonders erstrebenswerter Zustand. Wenn wir das schaffen würden, dann würden auch viele unmittelbare und indirekte Fluchtursachen wegfallen.

Autor:in: Ina Götze