Tag der deutschen Einheit: Der 3. Oktober 1990, ein historischer Tag, an dem aus DDR und alter Bundesrepublik wieder ein Deutschland wurde. Mittlerweile sind seitdem 32 Jahre vergangen. Aber kann man wirklich von Einheit sprechen? Noch immer wird in den Medien und auch privat von Ost und West gesprochen und auch Parteien, vor allem die AfD, instrumentalisieren die Teilung für sich. Was genau aber ist „der Osten“ und was „der Westen“? Gibt es Tendenzen, wie Ost und West in den Medien dargestellt werden und was hat das für Auswirkungen? Darüber, wo wir durchaus schon eine Einheit sind und vieles mehr, sprach Linguist Prof. Dr. Kersten Sven Roth im Interview. Prof. Roth ist außerdem Vorsitzender des Fachverbands "Sprache in der Politik", der am 22. und 23. März 2023 seine Jahrestagung zum Thema "Ost-West-Konflikte. Interdisziplinäre Perspektiven auf den Diskurs über Deutschland und die Welt" an der Uni Magdeburg abhalten wird.
Seit nunmehr 32 Jahren sind Ost- und Westdeutschland wieder vereint. Dennoch wird noch immer von West und Ost gesprochen – woran liegt das wohl? Und was sagt das aus?
Das sagt zunächst mal aus, dass wir uns geirrt haben, als wir in den 90er Jahren dachten, das Thema würde sich schnell erledigt haben. Das dachten viele, das dachten vor allem im Westen viele, sehr lang. Es gab da auch so etwas wie eine Schlussstrich-Mentalität und man hat auch gerne gesagt: ‚Das muss doch irgendwann mal ein Ende haben, das Thema.‘ Ich glaube, im Osten hat man das anders wahrgenommen. Gregor Gysi hat in einem Interview vor ein paar Wochen gesagt, es gehöre zu den größten Irrtümern seiner politischen Karriere, dass auch er dachte: Das ist in einer Generation erledigt. Ich glaube, es hat drei Gründe im Wesentlichen, warum das Thema sich so schnell nicht erledigt. Zum einen ist es natürlich institutionalisiert. Wir haben Jahrestage jeden Herbst, und dann führen wir Gespräche wie dieses und immer wenn wir über die Einheit sprechen, sprechen wir natürlich auch über Trennung und Teilung. Das Zweite ist, dass das eine sehr praktische Kategorie ist, weil sie so zweiteilig, so dichotomisch ist: entweder Ost oder West. Wenn ich Sie fragen würde: Wo genau ist eigentlich der Norden in Deutschland? Wo genau ist der Süden? Das funktioniert so nicht. Bei Ost und West orientieren wir uns einfach immer an der alten innerdeutschen Grenze und teilen das danach, obwohl das natürlich häufig gar nicht passend ist. Und das Dritte ist, glaube ich: Es gibt natürlich Unterschiede. Da muss man auch als Linguist aufpassen, nicht einer Art Sprachfetischismus zu verfallen. Es gibt Unterschiede und es gibt eben nicht nur Unterschiede in der politischen Kultur, sondern es gibt zum Beispiel auch ökonomische Unterschiede, was im Westen häufig gar nicht so bewusst ist – und was auch gar nicht nur an Löhnen hängt, sondern zum Beispiel an dem sehr, sehr großen Erbvermögen, das wir in Westdeutschland haben und das wir im Osten eben nicht haben.
Mittlerweile gibt es mehrere Generationen, die nach der Wende geboren sind. Dennoch gibt es immer noch die Identität als Ostdeutsche oder Westdeutsche. Warum?
Interessanterweise entsteht die häufig in der Spiegelung. Also viele Leute, die beispielsweise in Magdeburg aufgewachsen sind, erzählen, dass sie ihre ostdeutsche Identität vor allen Dingen dann entwickelt haben, als sie in westdeutsche Städte zum Studieren oder Arbeiten gegangen sind und ihnen das plötzlich auch so zugeschrieben wurde: Ach, du kommst aus dem Osten, du bist also Ostdeutsche*r. Das ist natürlich das eigentlich diskurslinguistisch interessante Phänomen. Da kann man ganz gut zeigen, warum man linguistische Gesellschaftsforschung braucht, weil es eben zeigt, dass unser Wissen, unsere Einstellungen vielleicht gar nicht so sehr erfahrungsbasiert sind, wie man denkt. Ich denke, Sie glauben zuwissen, dass sich die Erde um die Sonne dreht, obwohl Sie jeden Tag „erfahren“, dass sich die Sonne bewegt und nicht die Erde. Sie glauben das einfach, weil man Ihnen das erzählt hat. Und ostdeutsch Sozialisierte wachsen eben in anderen Erzählungen, in anderen Narrativen auf als Westdeutsche. Und die kann man linguistisch untersuchen.
Es gibt auch durchaus noch immer Unterschiede in der Sprache zwischen Ost und West. Das sieht man ja allein an der Uhrzeit. Sollte sich nach über 30 Jahren nicht langsam die Sprache angepasst und angenähert haben? Oder wird es einfach immer Unterschiede geben, nicht nur zwischen Ost und West, sondern eben auch zwischen Nord und Süd?
Mit der Uhrzeit sprechen Sie dieses „Viertel nach elf“- vs. „Viertel zwölf“-Thema an, nehme ich an? Das ist ein ganz schönes Beispiel, an dem man sehen kann, dass Konzepte wie dieses politische Ost/West einfach auch über-übertragen werden. Es gibt einen Ost-West Unterschied bei diesen Zeitangaben, der hat aber überhaupt nichts mit diesen politischen Hintergründen zu tun. Der ist tatsächlich einfach dialektal begründet. Er ist historisch so gewachsen und zieht sich durch das gesamte deutsche Sprachgebiet ost-westlich, wobei er interessanterweise im Süden sogar so ein „Knick“ macht, wie man in Dialektatlanten ganz gut sehen kann: In Süddeutschland ist es so, dass im Südwesten tatsächlich diese „Viertel Zwölf“-, „Dreiviertel Zwölf“-Variante auch üblich ist. Ich selbst bin in der Pfalz aufgewachsen, da sagt man das auch – ganz im Westen, fast in Frankreich.
Schaut man in die Medien, dann merkt man, dass der Osten offensichtlich immer wieder Thema ist, zumal im Zusammenhang mit AfD und Co. Der Westen aber kaum. Was zeigt das?
Ja, das ist tatsächlich ein interessanter Punkt und ist tatsächlich etwas, das man in den Analysen seit 30 Jahren konstant zeigen kann. Wir sprechen immer vom „Ost-West“-Thema, in Wirklichkeit ist aber eben nur der Osten ein Thema. Den Komplex AfD haben Sie angesprochen, der häufig so gerahmt wird, obwohl wir ja wissen, dass es kein reines ostdeutsches Phänomen ist. PEGIDA finde ich immer ein sehr gutes Beispiel. Das ist natürlich in Dresden entstanden und Dresden liegt ziemlich weit im Osten, das ist richtig. Aber es wurde eben auch medial immer als „ostdeutsch“ gerahmt, als ein ostdeutsches Problem. Und auf der anderen Seite haben wir die „Querdenker“-Bewegung, gegründet von einem Unternehmer, gegen den mittlerweile wegen Betrugs ermittelt wird, und die nicht zufällig in Stuttgart entstanden ist – am Anfang auch noch die die Vorwahl 0711 im Namen hatte – undsehr eng mit spezifisch westdeutschen Milieus verbunden war am Anfang und erst dann exportiert wurde in den Osten. Und da hat niemand gesagt: ‚Wir haben da ein Problem ‚im Westen‘ mit dieser Bewegung‘. Jetzt könnte man sagen: Es ist doch gut, wenn viel über den Osten geredet wird. Das stimmt aber aus zwei Gründen nicht: Zum einen ist es so, dass wir linguistisch immer sagen würden, das, worüber gesprochen wird, was expliziert wird, ist der markierte Fall, also nicht der Normalfall. Und wir sprechen nicht über den Westen, weil der als „Normal Null“, so habe ich das mal genannt, immer im Hintergrund steht und der Osten immer Abweichung ist. Und das zweite ist, dass das nicht irgendeine Abweichung ist, sondern es ist eigentlich immer Schwäche und es ist eigentlich immer Belastung: Der Osten bereitet immer Probleme, deshalb sprechen wir über ihn. Das ist natürlich verhängnisvoll.
Gibt es eine Tendenz, wie Ost und West in den Medien dargestellt werden? Und gibt es klare Stereotype?
Ja, natürlich – Medienkommunikation ohne Stereotype gibt es grundsätzlich nicht. Das Interessante ist eigentlich, dass es dieselben Stereotype sind, die wir seit Anfang der 90er Jahre kennen. Möglicherweise sind die sogar noch älter, das wäre eine diskurshistorische Frage. Man kann das ganz schön sehen, wenn man dorthin schaut, wo Stereotype unverzichtbar sind: bei Humor und Komik. Da kann man das idealtypisch sehen. Ich war ganz am Anfang nach meiner Berufung hier in Magdeburg mit lieben Kolleginnen, die aus Magdeburg sind, in der „Zwickmühle“ – ein hervorragendes Kabarett übrigens, das ich sehr empfehlen kann. Und da kamen Westdeutsche vor und diese Westdeutschen waren natürlich arrogant und ignorant. Interessanterweise sprechen die auch grundsätzlich entweder bayerisch, schwäbisch oder einen niederrheinischen Dialekt, so aus dem Kölner Raum. Sie sprechen nicht friesisch oder pfälzisch, das kommt nicht vor. Ja und der oder die Ostdeutsche ist in der Komik – auf den Punkt gebracht – dumm. Und das ist auch eine umgekehrte Praxis: Wenn man in Comedy-Formaten jemanden was Dummes sagen lassen will, dann lässt man ihn am besten sächsisch sprechen, weil Westdeutsche oft glauben: In Ostdeutschland spricht man eben sächsisch.
Schaut man mal auf die Wahlplakate im Osten, dann sieht man auch Parolen wie „Der Osten steht auf“ oder „Wende 2.0“. Das sind Beispiele von der AfD. Instrumentalisiert die Politik auch Ost und West für sich und wenn ja, wie?
Ja, natürlich tut sie das. Da nutzt sie einfach das Potenzial dieser Zweiseitigkeit aus, dieses EntwederOders, das man natürlich auch gut gegeneinander in Stellung bringen kann. Das hat natürlich die Die Linke lange gemacht, die sich eine ganze Zeit lang darauf verlassen hat, die „Ostpartei“ zu sein. Jetzt hat das die AfD übernommen. Die Linke hat es im Landtagswahlkampf 2021 hier noch mal versucht, mit „Nehmt den Wessis das Kommando“-Plakaten und so, aber das ist nicht gut gegangen, weil das jetzt zu sehr von der AfD bereits besetzt ist. Und man kann tatsächlich ganz schön zeigen, dass sich dabei bei inzwischen bei der AfD zwei sehr unterschiedliche populistische Formate inzwischen entwickelt haben: Der Populismus-West und der Populismus-Ost funktionieren sehr unterschiedlich. Meine Kollegin hier in der Magdeburger Germanistik, Vanessa Kanz, hat letztes Jahr eine sehr schöne Analyse zum Bundestagswahlkampf gemacht, wo sie das gezeigt hat. Das Spannendere an der Art und Weise, wie die AfD diese Ostkarte spielt, sind aberdie diskurshistorischen Kontinuitäten, die sie zur „Wende“ in der DDR zieht. Sie spielt sehr stark mit dem Narrativ, dass die Situation heute so ähnlich sei wie sie 89/90 war. Sie benutzt sehr viel das Konzept und auch den Ausdruck „Widerstand“, den es zu leisten gelte. Für das Verhältnis der Bürgerinnen und Bürger, die das für plausibel halten zu diesem Staat ist das natürlich kein gutes Zeichen.
Wie sollten Medien und Politik die Kommunikation über West und Ost verbessern, um die Spaltung zwischen Ost- und Westdeutschland nicht mehr so zu manifestieren?
Zum einen: differenzierter werden. Man muss einfach über den Osten auch mal erzählen, ohne über Rechtsradikale zu erzählen, die in der Regel übrigens aus dem Westen importiert sind – die Strukturen und auch das Personal. Der Osten ist zur großen Überraschung vieler so vielfältig wie der Westen, wie Norditalien oder jede andere Region. Das könnte man sicher stärker abbilden. Aber für den eigentlichen Schlüssel halte ich tatsächlich: Wir müssen ein Gespräch über den Westen beginnen und über die Belastungen, die der Westen bringt. Wir müssen über solche Themen sprechen wie die Frage, warum nach wie vor die Mehrheit von Professuren auch heute mit westdeutsch Sozialisierten besetzt werden. Das betrifft ja auch mich als westdeutsch Sozialisierten. Ich muss das dann auch aushalten, dass man tatsächlich auch anfängt, die Diskussion zu führen: Ist das tatsächlich immer nur von der Qualifikation bestimmt? Dann, glaube ich, kommen wir da in einen anderen Diskurs. Und dann können wir vielleicht irgendwann auch mal dieses Thema in dieser Form, wie wir es heute führen, überwinden.
Vielleicht auch mal was Positives. Wo sind wir denn schon eine Einheit und haben uns auch sprachlich schon angenähert?
Sprachlich im engeren Sinne sind wir eine Einheit. Ich habe jetzt viel über Diskurse gesprochen und über die Konzeptseite: Was meinen wir, wenn wir Osten sagen? Da gibt es eben große Unterschiede. Im engeren Sinne sprachlich gibt es die nicht. Es war ja so, dass man in Zeiten der deutschen Teilung – auch in der Linguistik – lange die große Befürchtung hatte, dass da zwei unterschiedliche deutsche Sprachen entstehen in der DDR und in der Bundesrepublik, und es dann irgendwann nicht mehr möglich sein wird, sich zu unterhalten. Das war nicht so. Das war schon 89/90 nicht so und das würden wir aus unserer heutigen linguistischen Sicht auch für eine wenig plausible Vorstellung halten. Wir haben auch eine österreichische Varietät, eine schweizerische Varietät, und manche Wörter verstehen wir dann nicht und aber wir können uns doch ganz gut unterhalten. Deutsch ist eine plurizentrische Sprache: Es ist nicht so, dass das „deutschländische Deutsch“ das einzige ist, an dem sich alles zu messen hat. Auch andere Dinge, die Anfang der Neunzigerjahre durchaus Unterschiede waren, haben sich angeglichen, zum Beispiel Kenntnisse von bestimmten kommunikativen Praktiken. Bewerbungsgespräche etwa gab es in dieser Form in der DDR nicht, so etwas musste also sehr, sehr schnell gelernt und geübt werden von den Ostdeutschen. Aber auch da haben wir uns natürlich längst angeglichen.
Am 3. Oktober ist Tag der Deutschen Einheit, was ist Ihr Eindruck: Ist Deutschland eine Einheit oder ist die Spaltung stärker?
Eine schwierige Frage, bei der ich es mir einfach machen würde und sie linguistisch beantworten will. Dann ist das nämlich eine semantische Frage: Was meinen Sie mit „Einheit“? Diese Diskussion wird häufig in der Form eines Integrationsdiskurses geführt: Die Einheit ist hergestellt, wenn die Ostdeutschen so sind wie die Westdeutschen. Das ist, glaube ich, einfach eine falsche Auffassung, die uns nicht weiterführt. Erstens, weil wir da eben definieren müssen: Wie ist der Westen denn nun? Auch der Westen ist vielfältig. Und zweitens mehr noch, weil das eigentlich keine pluralistisch demokratische Vorstellung unserer Gesellschaft ist. Warum nicht unterschiedliche Perspektiven? Warum nicht dann eben doch auch unterschiedliche Erfahrungen? Wir haben seit vielen Jahrzehnten kein Problem damit, dass in Bayern auch politisch einiges anders läuft als anderswo und wir dort lange Zeit fast so etwas wie einen faktischen Einparteienstaat hatten. Man kann so was aushalten. Und ich glaube, echte Einheit ist da, wenn wir diese verschiedenen Perspektiven auch mit Bezug auf Ost und West akzeptieren.