In jüngster Zeit rückten Geburtshilfe, Gebären und Mutterschaft vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit, nicht zuletzt durch die Diskussion über die Reform des Abstammungsrechst für queere Familien, die Akademisierung des Hebammenwesens oder die zahlreichen Schließungen von Kreissälen. Wie veränderte sich das Verständnis von Schwangerschaft? Wie entwickelte sich die Wahrnehmung von Mutter- und Elternschaft? Welche Leitbilder gab es für die Geburtshilfe? Fragen, die Redakteurin Ines Perl an die Organisatorinnen der interdisziplinären Tagung zu „Gebären – Geburtshilfe – Mutterschaft in Geschichte und Gegenwart“ Professorin Eva Labouvie und Gastprofessorin Tina Jung vom Institut für Gesellschaftswissenschaften der Fakultät für Humanwissenschaften gestellt hat.
Stimmt die Wahrnehmung, dass die Themen Gebären, Geburtshilfe, Mutterschaft gerade sehr im Gespräch sind? Was meinen Sie, warum ist das so?
Tina Jung: In jüngster Zeit kommen den Themen Gebären, Geburtshilfe und Mutterschaft bzw. Elternschaft tatsächlich eine höhere Aufmerksamkeit in Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik zu. Das hat u.a. damit zu tun, dass es in Deutschland Probleme bei der flächendeckenden und würdevollen Versorgung mit Geburtshilfe gibt. So haben wir v.a. in ländlichen Räumen einen Hebammenmangel. Auch das System der klinischen Geburtshilfe wurde grundlegend geändert, u.a. durch die Einführung eines neuen Finanzierungssystems, den sogenannten Fallpauschalen. Seit deren Einführung hat rund ein Drittel aller Kreißsäle in Deutschland dauerhaft seine Türen geschlossen. Die verbleibenden Kreißsäle sind vielerorts überlastet, spüren wirtschaftlichem Druck und Personalmangel. Das alles hat große Folgen für die Geburtshilfe sowie auf Mutterschaft bzw. Elternschaft. Auch mit Blick auf die Reform des Abstammungsrechts, der Anerkennung von Co-Mutterschaft und der rechtlichen Absicherung von sogenannten Regenbogenfamilien ist Mutterschaft ein hochaktuelles Thema.
Gast-Professorin Dr. Tina Jung (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Eva Labouvie: Das Interesse an den lebenswichtigen Zusammenhängen zum Thema Gebären, der Art der Geburtshilfe und an Mutterschaft bricht sich mit einem Blick in die Geschichte immer wieder Bahn. Allerdings wurden Diskussionen um die Kulturen des Gebärens und die gesellschaftlich erwünschte oder individuell angestrebte Bedeutung von Mutterschaft bzw. Elternschaft immer dann intensiviert, wenn es im Laufe der Geschichte zu Konflikten – etwa zwischen Geburtshelfer*innen und Gebärenden, Gesellschaft und Individuum, Frauen und Männern, Ärzten und Hebammen usw. – kam. So etwa im 18. Jahrhundert in der Zeit der Aufklärung, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert, in Deutschland ab den 1950er Jahren mit dem Aufkommen der Klinikgeburten, dann wieder mit der Zweiten Frauenbewegung in den 1970er und 80er Jahren, wo Diskussionen um eine „natürliche“ oder „sanfte“ Geburt, um Frauen als Reproduktionsmaschinen oder um Mutterschaft als gesellschaftlich erzwungene weibliche Rolle entbrannten. In jüngster Zeit kommen schließlich Problemlagen in postmoderner Ausprägung hinzu, die Schwangeren und jungen Müttern über die allseits bekannte Doppelbelastung der Frauen seit der Industrialisierung hinaus immer größere Verantwortlichkeiten aufbürden.
Die Vorstellungen von einer „glücklichen" Geburt und Mutterschaft sind einem steten Wandel unterzogen. Was unterscheidet die gesellschaftliche Wahrnehmung und Akzeptanz von Gebären und Mutterschaft von heute von den Vorstellungen vor 100 oder 500 Jahren?
Eva Labouvie: Geburten fanden bis weit in die 1950er Jahre hinein an einem vertrauten Ort und ausschließlich unter verwandten, befreundeten und benachbarten Frauen und ihren Hebammen statt. Sie bildeten eine Not-, Hilfs- und Ritualgemeinschaft, deren Aufgabe es war, einer Frau aus ihrer Mitte bei der Geburt beizustehen und die Hebamme zu unterstützen. Diese weiblichen Kollektive um die Gebärenden finden sich seit dem 16. Jahrhundert überall in Europa, so dass von einer homogenen europäischen Frauenkultur um das Gebären auszugehen ist, die Schwangerschaft und Geburt als Übergänge, Schwangere und Gebärende als Grenzgängerinnen begriff und mit rechtlichem Schutz und Privilegien versah. Als aktive „Arbeit“ der Frau bedurfte eine Geburt keiner technischen Hilfen, sondern der umfassenden Unterstützung der Gebärenden, in deren „Natur“ es lag, ihr Kind aus eigener Kraft zur Welt zu bringen.
Derartige Vorstellungen stehen zum Teil im Gegensatz zum heutigen Verständnis: Von einem Sinn stiftenden Körperritual entwickelte sich die heutige medikalisierte Geburt vielerorts hin zur Herstellung einer ‚Ware‘ von besonders guter Qualität. Dabei wird der schwangeren oder gebärenden Frau eine zumeist passive Rolle zuteil, denn nicht sie selbst, sondern ihre Muskeln, Organe und Hormone werden zum aktiven Part des Geschehens. Der Glaube, dass durch Kaiserschnitt Babys von bester Qualität geboren würden, ließ diesen operativen Eingriff, den man in der vormodernen weiblichen Geburtshilfe auf den äußersten Notfall konzentrierte, von ca. 8 Prozent um 1980 auf derzeit über 40 Prozent ansteigen.
Prof. Eva Labouvie (Foto: Felix Meyer)
Tina Jung: Die Rechte und das Wohlergehen von Schwangeren und Gebärenden spielen inzwischen eine größere Rolle. Neben Sicherheit und Schutz ist insbesondere die Selbstbestimmung ein wichtiger Bezugspunkt der Vorstellungen von ‚guter‘ Geburt geworden. Diese Entwicklung ist aber durchaus ambivalent, weil Selbstbestimmung inzwischen vor allem als individuelle Wahlentscheidung in einem ökonomisierten Gesundheitsmarkt verstanden wird. Man muss sich nur einmal anschauen, was alles an Informationsangeboten auf Schwangere und Gebärende einprasselt. Sie werden nun eben auch als Entscheider*innen adressiert, die sich ‚richtig‘ informieren, bilden, vorbereiten und dann auch die ‚richtigen‘ Entscheidungen treffen sollen, um eine ‚gute‘ Geburt zu haben und ihren Babys den bestmöglichen Start ins Leben zu gewähren. Wenn die Geburt dann nicht so glücklich oder gut war wie erhofft, kann leicht die Verantwortung der Mutter zugeschoben werden, nach dem Motto: Sie hat die falschen Entscheidungen getroffen, hat sich nicht gut genug auf die Geburt vorbereitet, ist mit falschen Vorstellungen herangegangen oder ähnliches. Dabei hat das oft eher mit den Strukturbedingungen und den institutionellen Logiken in der Geburtshilfe zu tun, als mit der individuellen Mutter. Außerdem ist zu bedenken, dass all diese Bildungs- und Informationsangebote vor allem gut gebildete, wohlsituierte Mittelstandsfamilien erreichen. Nicht alle haben den gleichen Zugang und die gleichen Möglichkeiten im Gesundheitssystem, das zeigen Studien.
Referentinnen aus den Bereichen Geschichte, Medizingeschichte, Ethnologie, Politik-, Sozial- und Hebammenwissenschaft, Soziale Arbeit und Gesundheit werden auf der Tagung unterschiedliche Perspektiven und kulturelle Dimensionen von Gebären, Geburtshilfe und Mutterschaft und diskutieren. Warum diese breite Aufstellung?
Eva Labouvie: Die Tagung hat sich zum Ziel gesetzt, erstmals eine in der Forschung bislang fehlende transdisziplinäre Zusammenschau der Konzepte, Praktiken und Regelungen, der Unterschiede, Brüche oder Kontinuitäten von Gebären, Mutterschaft, Fertilität und Natalität interdisziplinär und über einen langen historischen Bogen vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart in den Fokus zu nehmen.
Welche Auswirkungen kann die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Themenkomplex auf den aktuellen/ künftigen Umgang damit haben?
Tina Jung: Forschung stellt Wissen darüber zur Verfügung, welchen Problemen, Hindernissen und Möglichkeiten sich (werdende) Mütter und Eltern gegenüber sehen, wie Geburtshilfe bedarfsgerecht und menschenrechtsbasiert gestaltet werden kann oder welche gesellschaftliche Normen vorhanden sind bzw. wie diese sich verändern. Das alles sind nicht nur medizinische Fragen, sondern betreffen die politische, rechtliche und soziale Gestaltung von Gesundheits-, Sozial-, Gleichstellungs- und Familiensystemen – und die Entwicklung von Gesellschaften insgesamt.
Eva Labouvie: Forschung ist Aufklärung. Sie stellt unterschiedliche Denk- und Praxismodelle zur Verfügung, hilft einzuordnen und im Falle der historischen Betrachtung zu begreifen, an welcher Stelle der Entwicklung wir uns gerade befinden. Unsere wissenschaftliche Arbeit dient der Analyse von Zusammenhängen, etwa der Einsicht, dass sich weder Schwangerschaft, Geburt noch Mutterschaft als Ereignisse veränderten, sondern diese anthropologischen Konstanten der Menschwerdung in enger Anlehnung an die Geschlechterordnungen einer jeweiligen Zeit und deren Konzepte von Weiblichkeit und Mutterschaft immer wieder neu bewertet wurden. Die daraus resultierenden neuen Sichtweisen auf Geburt, Gebären und Mutterschaft gilt es kritisch zu prüfen.
Hebammen spielten in der Geburtshilfe schon immer eine bedeutende Rolle. Wie hat sie sich in den zurückliegenden 500 Jahren verändert?
Eva Labouvie: Hebammen erlangten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ihre Kenntnisse durch die Assistenz einer praktizierenden Kollegin. In den Städten wie auf dem Land wurden sie aufgrund ihrer Kenntnisse von den verheirateten Frauen der Gemeinden in einer formellen Wahl mit Stimmenmehrheit gewählt; sie galten als bei Geburten helfende Vertrauenspersonen und waren Leiterinnen einer Fülle von Frauenritualen um Geburt, Kindbett, Taufe und Mutterschaft.
Ein europaweiter Wandel kündigte sich im 17. Jahrhundert an, als städtische Ärzte die Überprüfung weiblichen geburtshelferischen Wissens beanspruchten und den Ausschluss nicht geprüfter Hebammen verlangten. In einer flächendeckenden zweiten Reform des Hebammenwesens auf dem Land übertrugen die Landesregierungen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts Medizinern und Wundärzten nunmehr die gesamte Ausbildung auch der Landhebammen in Hebammenkursen, Hebammenschulen und Entbindungsanstalten und verboten das Hebammenwahlrecht und das Praktizieren nicht approbierter Hebammen. Dieser Medikalisierungsprozess zog bis Ende des 19. Jahrhunderts vielfältige Proteste und Widerstände aus den Gemeinden nach sich.
Seit den 1850er Jahren begann der neue Typus der approbierten Berufshebamme jenen der traditionellen Geburtshelferin allmählich zu verdrängen. Dieser Wandel bewirkte zugleich den Rückzug bzw. die Verbannung der helfenden Frauen um die Geburten. Ein weiterer Wandel setzte ab den 1950er Jahren ein, als die bei Städten, Ämtern und Kreisen angestellten freien approbierten Hebammen vermehrt in die entstehenden Frauenkliniken gingen, die weit bessere Arbeitsbedingungen und vor allem Löhne boten. Mit ihnen gingen nun auch die Gebärenden vermehrt zur Geburt in die Krankenhäuser.
Blicken wir einmal auf die medizinische Seite der Geburt – Schmerzen begleiten das Gebären. Das ist der natürliche Lauf der Dinge. Nicht selten aber erfahren Gebärende auch Gewalt. In welcher Form und warum?
Tina Jung: Gewalt in der Geburtshilfe meint all jene Grenzverletzungen, die gerade nicht durch den „natürlichen Lauf der Dinge“ verursacht sind, sondern durch menschliches Handeln oder auch durch die Strukturen des Geburtshilfesystems, zum Beispiel, wenn die Gebärenden während der Geburt alleine gelassen werden, weil zu wenig Personal im Kreißsaal ist. Dazu werden in der Forschung außerdem körperliche und psychische Gewalt, Demütigung, Misshandlung und Vernachlässigung gezählt, wenn Interventionen durchgeführt werden, über die die Schwangere nicht informiert oder aufgeklärt wurde oder die ohne ihr Einverständnis durchgeführt worden sind, sowie wenn ihre Menschen- und Grundrechte missachtet worden sind.
Die Ursachen sind vielschichtig. Gewalterfahrungen können individuellem Fehlverhalten einzelner Geburtshelfer*innen und stereotypen Vorurteilen gegenüber der Gebärenden geschuldet sein, aber auch der Nicht-Einhaltung professioneller Standards, schlechter Kommunikation und schlechten Arbeitsbedingungen im Kreißsaal bis hin zu strukturellen Defiziten bzgl. der geburtshilflichen Versorgungslage.
Die Weltgesundheitsorganisation, die Generalversammlung der Vereinten Nationen und die Parlamentarische Versammlung des Europarats haben ihre Mitgliedsstaaten dazu aufgerufen, umfangreiche Maßnahmen zur Beseitigung und Bekämpfung von Gewalt in der Geburtshilfe zu ergreifen. Entsprechend sind auch in Deutschland die geburtshilflichen Berufsverbände und wissenschaftlichen Fachgesellschaften, (Landes-)Regierungen, Kommunen und zivilgesellschaftliche Organisationen aufgerufen, sich dem Thema Gewaltschutz im Kontext Geburtshilfe zu widmen. Zu den geforderten Maßnahmen gehört auch die deutliche Verbesserung des wissenschaftlichen Forschungsstands zu Gewalt in der Geburtshilfe.
Wir freuen uns auf den breiten Austausch auf unserer Tagung, der hier sicher viele neue Einsichten und weitergehende Forschungsperspektiven zu Tage fördern wird.
Danke für das Gespräch.