Der internationale Tag der Menschen mit Behinderung wird seit 1993 jedes Jahr am 3. Dezember begangen. Er soll das Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderungen stärken. Passend zu diesem Anlass hat Lisa Baaske mit dem KI-Experten Jun.-Prof Ingo Siegert und dem Erziehungswissenschaftler Prof. Olaf Dörner ein Interview rund um das Thema einfache Sprache geführt, da beide gemeinsam daran forschen. Einfache Sprache spielt eine zentrale Rolle bei der Förderung der Inklusion und der Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Sie ermöglicht einen barrierefreien Zugang zu Informationen, Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe.
Was ist einfache Sprache?
Prof. Dörner: Zunächst einmal ist Sprache ein Kommunikations- bzw. Interaktionsmittel, das Menschen verwenden, um Gedanken, Ideen und Informationen auszutauschen. Sie besteht aus Wörtern, Sätzen und Regeln, die es ermöglichen, sich verständlich auszudrücken. Im linguistischen Verständnis wird einfache Sprache bewusst eingesetzt, um Informationen für Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen zugänglicher zu machen. Im psychologischen und kommunikationswissenschaftlichen Sinne geht es um die Zugänglichkeit einer verständlichen Kommunikation in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen für ein breites Publikum, in soziologischer Perspektive werden primär soziale Unterschiede in der Sprache fokussiert.
Als Erziehungswissenschaftlicher interessiert mich einfache Sprache mit Blick auf Bildung, Erziehung und Lernen. Einfache Sprache bedeutet auch hier, sich klar, prägnant und leicht verständlich auszudrücken, also komplizierte Satzbauten und Fachbegriffe zu vermeiden. Das ist leichter gesagt als getan, da einfache Sprache nicht intuitiv ist. Einfach zu sprechen, bedeutet, bewusst und überlegt zu sprechen. Insofern erfordert einfache Sprache die bewusste Anstrengung, nicht routiniert oder intuitiv zu sprechen. Alltagssprache ist aber routiniert und in Bezug auf Satzbau und Wortwahl häufig unüberlegt. Wir sprechen wie wir sprechen und reden uns oft um Kopf und Kragen. Um den Preis, dass wir nicht immer verständlich sind. Einfach Sprache bedeutet, sich von eigenen routinierten Sprechweisen zu lösen und bewusst einfach zu sprechen. Das erfordert Wissen über einfache Sprache und die Fähigkeit, sie anzuwenden. Einfache Sprache muss also erlernt und geübt werden.
Einfache Sprache ist aber auch eine Form der Kommunikation/Interaktion von Menschen unter- und miteinander, die unmittelbares Verstehen ohne (zusätzlichen) Erklärungen ermöglicht. Unmittelbares Verstehen auf Sprachebene ist dort gegeben, wo aufgrund gemeinsam geteilter Erfahrungen unmittelbare Verständigung über Sprache möglich ist. Dies betrifft nicht nur Satzbau und Fachbegriffe, sondern die milieu-, generations-, geschlechts- und migrationsgebundene Umgangsweisen mit Sprache. Insofern kommt es bei der Erforschung von einfacher Sprache im Kontext von Bildung darauf an, nicht nur technisch auf Satzbau und Begriffswahl zu achten, sondern auch auf kulturelle Eigen- bzw. Besonderheiten. Der Fokus auf geringe Lese- und Sprachkompetenz, Lernschwierigkeiten oder eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten wäre daher zu kurz gegriffen.
Was ist der Unterschied zwischen leichter und einfacher Sprache?
Prof. Dörner: Diese Unterscheidung ist in Bezug auf Menschen mit Behinderungen relevant. Einfache Sprache wird als eine vereinfachte Form der Sprache verstanden, die darauf abzielt, Informationen für Menschen mit geringen Lese- und Schreibfähigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen zugänglicher zu machen. Leichte Sprache wird als eine weitere Form der vereinfachten Sprache verstanden, die sich jedoch an Menschen mit Lernschwierigkeiten, geistigen Behinderungen oder Leseschwächen richtet.
Prof. Olaf Dörner (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Welche Merkmale kennzeichnen einen Text in einfacher Sprache?
Prof. Dörner: Technisch gesehen sind dies kurze Sätze, einfache Wörter und einfache Grammatikstrukturen. Sozio-kulturell hingegen unmittelbare Verständlichkeit, also Verstehen ohne die Notwendigkeit von Erklärungen.
Jun.-Prof. Siegert: Diese Frage ist auch aus Ingenieurssicht wichtig, denn wenn es hier gut beschreibbare Merkmale gibt, dann können wir diese auch automatisiert überprüfen und eine Aussage dazu treffen, ob ein Text in einfacher Sprache vorliegt. Sowie dann auch Methoden entwickeln, die jeden Text in einfache Sprache übersetzen.
Welche Vorteile hat die Verwendung einfacher Sprache?
Prof. Dörner: Die Idee ist, Interaktionen und Kommunikationen mit Hilfe von Sprache umfassend, also für Alle, zu ermöglichen und so gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisten. Wir gehen davon aus, dass einfache Sprache zur Inklusion beiträgt, da sie Verstehen ermöglicht. Inwieweit das der Fall ist, ist empirisch zu untersuchen.
Jun.-Prof. Siegert: Auch aus Techniksicht ist die Nutzung von einfacher Sprache hilfreich. Bisher haben viele technische Geräte Unzulänglichkeiten, die wir als Menschen ausgleichen müssen, und das auch sehr gut können. Wir Menschen müssen uns an die Benutzung von Systemen anpassen. Gerade durch den Hype um KI und ChatGPT sehen wir zum einen, welche Möglichkeiten Sprache bietet und, dass es auch schon seit Alexa, Siri und Co. für die Benutzung von technischen Systemen nutzbar ist. Aber auch hier werden die Systeme eher für Menschen entwickelt, die der Sprache in all Ihren Facetten mächtig sind. Damit schließen wir aber eine ganze Menge von Gruppen aus: Menschen mit Behinderung, Menschen mit Lese-Schreibschwäche, Menschen, für die Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Uns fällt es schon schwer manche Rückmeldungen und Texte von technischen Systemen zu verstehen, wie geht es dann erst diesen Menschen? Eigentlich sollen technische Systeme den Alltag einfacher machen. Durch die Nutzung von einfacher Sprache kann hier bei Bedarf ein besserer Zugang zu Systemen geschaffen werden. Sei es, um Fehlermeldungen zu erklären, um Bedienungsanleitungen zu vereinfachen, oder auch für Tutorials sowie "richtige" Systemantworten.
Sie forschen im Moment interdisziplinär an einfacher Sprache: Worum geht es? Was wollen Sie erreichen?
Jun.-Prof. Siegert: Im Moment geht es darum, wie wir automatisiert Texte als "einfache Sprache" bestimmen können sowie Aspekte zu identifizieren, die noch nicht den Anforderungen an einfache Sprache genügen. Im zweiten Schritt sollen dann Methoden (auch KI-basierte) entwickelt werden, um Texte automatisiert in gesicherte einfache Sprache zu übersetzen. Dies soll aber nur als Aufhänger dienen, um anhand des Beispiels einfacher Sprache den Gedanken der Inklusion stärker in den Entwicklungsprozess technischer Systeme zu integrieren. Wie muss solch ein Prozess aussehen? Wann kann man wie Menschen mit Einschränkungen einbinden, ohne diese bloßzustellen und vorzuführen? Wie müssen wir Nutzerstudien anpassen, wenn wir auch diese Erklärungen vereinfachen und somit verständlicher machen wollen? Hier stellt die einfache Sprache für uns einen zentralen Punkt dar.
Prof. Dörner: Kurz gesagt geht es um die Verbindung von KI und Inklusion im Kontext von Bildung und Lernen Erwachsener: Erforscht werden soll, inwieweit Bildung und Lernen unter inklusiven Bedingungen durch KI befördert werden kann. Zentral dabei ist, dass Vertreter aller beteiligten Gruppen von Beginn an in den Forschungs- und Entwicklungsprozess einbezogen werden.
Inwiefern kann eine KI eine Erleichterung sein, in der Verwendung von einfacher Sprache?
Prof. Dörner: Das wollen wir erforschen. Vorstellbar ist vieles, bspw. die Förderung von Verstehen in Kommunikationen bzw. Interaktionen von Erwachsenen, die aufgrund ihrer Erfahrungen und Einschränkungen sich nicht oder nur schwer unmittelbar verstehen können. Statt den notwendigen Erklärungen könnte mit Hilfe von KI ein Sprachmodus entwickelt werden, der Verstehen ermöglicht, bspw. die Übersetzung von einfacher und nicht-einfache Sprache oder umgekehrt.
Jun.-Prof. Siegert: KI, gerade die großen Sprachmodelle wie ChatGPT, können wertvolle Dienste leisten, da es bei der Übersetzung in einfache Sprache darum geht, die wesentlichen Inhalte zu erhalten, aber die Struktur und Komplexität von Sätzen zu verändern. Strukturerhalt, Strukturtransfer ist nun gerade das, was große Sprachmodelle gut können. Wichtig ist hier noch, dass wir gut definieren können, was wesentliche Inhalte sind. Aber auch das können wir über geeignete Wissensmodelle abstrahieren und einbinden. Hier stehen wir aber noch ganz am Anfang, da wir ja nicht nur einfacher zu lesenden Text haben wollen, sondern wirklich Text in einfacher Sprache, die es ermöglicht den Inhalt zu verstehen, wollen. Solch ein Modell kann dann am Ende je nach Gegenüber verschiedene Komplexitätsstufen von Texten erzeugen und ineinander umwandeln und so einen besseren Zugang zu Informationen und Texten ermöglichen.
Jun.-Prof. Ingo Siegert (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Welche Herausforderungen gibt es bei der einfachen Sprachvermittlung durch KI?
Jun.-Prof. Siegert: Wir müssen dafür Sorge tragen, dass die wesentlichen Informationen vermittelt werden und die Modelle nicht halluzinieren, also Texte oder Textabschnitte dazu erfinden, die so nicht im Ursprungstext standen. Weiterhin brauchen wir auch genügend Trainingsmaterial von Texten in einfacher Sprache mit dem dazugehörigen Ursprungstext (die Beide auch zum Training benutzt werden dürfen: Urheberrechte).
Prof. Dörner: Neben den technischen Herausforderungen gibt es, die sozio-kulturell bedingte. KI- basierte Sprachassistenzsysteme müssen mit unterschiedlichsten Sprachvarianten/- modi umgehen können. Gibt es eigentlich eine Sprache, die so universell ist, dass sie Verstehensprozesse ohne Lernvoraussetzungen ermöglichen? Vielleicht ist die Bildsprache geeignet, oder die Geräuschsprache. Menschliche Wahrnehmung kann auch als bild- und/oder geräuschhafte verstanden werden, da Welt maßgeblich über Bilder und Geräusche wahrgenommen wird. Das wollen wir erforschen.
Könnte man KI auch noch anderweitig in Bildungseinrichtungen einsetzen?
Prof. Dörner: Das, was wir machen ist zunächst Forschung bzw. forschungsbasierte Entwicklung. Dafür bedarf es Bedingungen, die nur Hochschulen bieten: geschützte Räume und ausreichend Ressourcen für Forschung. Gleichwohl haben wir Anwendungskontexte im Blick und forschen inklusiv, das heißt, das wir diejenigen von Beginn an in unsere Arbeit einbeziehen, die mit KI-basierten Sprachassistenzsystemen umgehen sollen bzw. es bereits tun: Jene, die solche Systeme entwickeln, jene, die ihren Einsatz verantworten und jene, die sie nutzen und nutzen sollen. Und auch jene, die sie beforschen.
Jun.-Prof. Siegert: Aus meiner Sicht: Na klar, KI kann helfen, individuelle Unterschiede auszugleichen. Hierbei geht es nicht darum, in Klassenarbeiten mithilfe von KI zu schummeln, indem ich die Lösungen von ChatGPT bekommen. Es geht eher darum, es allen Klassenkameraden zu ermöglichen auf dem gleichen Textmaterial zu arbeiten und hier Lern- und Verständnisunterschiede auszugleichen, sodass hier ganz selbstverständlich die Texte angepasst werden, um Erklärungen für schwierige deutsche Wörter zu geben oder Satzstrukturen aufzubrechen, etc. Auch kann es helfen komplexere Aufgabenstellungen an den Lernfortschritt der einzelnen Schülerinnen anzupassen, ohne das die Lehrkraft hier jeweils eigene Aufgaben manuell erstellen muss. Damit wird aber der Diversität der Schülerinnen auch im inklusiven Umfeld Rechnung getragen.
Was raten Sie Menschen, die sich mit einfacher Sprache vertraut machen wollen?
Prof. Dörner: Selbst bewusst erfahren, was es bedeutet einfach zu sprechen. Bspw. Nachrichten in einfacher Sprache hören. Und dann auch bewusst erfahren, was es bedeutet, auf Sprachebene nicht verstehen können. Es gibt keine Studierenden, die in einem Seminar nicht schon mal Exklusionserfahrungen beim Lesen von wissenschaftlichen Texten gemacht haben. Ebenso gibt es keine Studierenden, die beim Lesen von Texten nicht auch Inklusionserfahren gemacht haben. Es ist ihnen nur nicht immer bewusst. Aber, sie merken es, etwa dann wenn sie im Seminar mitreden oder nicht mitreden können.
Vielen Dank für das Gespräch!