Völlig unvorbereitet, ohne die geringsten Symptome, gewissermaßen zufällig und aus heiterem Himmel hat mich die Meldung getroffen“, sagte Spitzenpolitiker Guido Westerwelle zu seiner Diagnose akute myeloische Leukämie (AML). Westerwelle ging offen mit seiner Krankheit um. Er veröffentlichte ein Buch, gab verschiedene Interviews. 2016 verlor er den Kampf gegen den heimtückischen Blutkrebs.
Tatsächlich können die ersten Symptome unscheinbar sein: Müdigkeit, Blässe, Appetitlosigkeit oder Schwindel. Diese Form des Blutkrebses kann trotz modernster Therapien noch immer tödlich verlaufen. Der spanische Tenor José Carreras hatte Glück und konnte bereits 1988 diesen Krebs besiegen. Seither engagiert sich der Sänger mit seiner gleichnamigen Stiftung für die Erforschung und Behandlung der Krankheit, die zum Glück vergleichsweise selten diagnostiziert wird.
Seine Stiftung unterstützte in der Vergangenheit auch die Forschung von Prof. Dr. med. Dimitrios Mougiakakos an der Universitätsklinik für Hämatologie und Onkologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Der Facharzt für Innere Medizin, Hämatologie und Onkologie beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit den grundlegenden immunologischen Mechanismen von Krebserkrankungen, insbesondere bei bösartigen Erkrankungen des lymphatischen Organsystems wie dem Lymphdrüsenkrebs und der Chronisch Lymphatischen Leukämie. Der Onkologe verfolgt vielversprechende Ansätze. Er entwickelt eine zielgerichtete Behandlung, die idealerweise nur auf die Tumorzellen wirkt und damit im besten Falle eine belastende Chemotherapie überflüssig machen sollte.
Die Rede ist von sogenannten Immuntherapien, in die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit große Hoffnungen im Kampf gegen den Krebs setzen. Das Prinzip: die körpereigene Abwehr von Krebspatienten und -patientinnen so zu programmieren, dass sie Krebszellen erkennen und bekämpfen. Doch was so simpel klingt, beschäftigt die Wissenschaft weltweit seit Jahrzehnten. Denn Krebszellen haben eine heimtückische Eigenschaft. Sie können sich wie der sprichwörtliche „Wolf im Schafspelz“ vor dem Immunsystem verstecken. „Tumore und Krebszellen können ihre direkte Umgebung zu ihrem Vorteil manipulieren“, erklärt Mougiakakos.
Aussicht auf neue Krebstherapie
Eine weitere Herausforderung bei der Forschung: „Auch bei der Interaktion zwischen dem Immunsystem und den Tumorzellen handelt es sich nicht um ein starres, sondern um ein dynamisches System.“ Das heißt, es besteht immer die Gefahr, dass sich Resistenzen gegen immunologische Therapieprinzipien entwickeln können. Die zugrundeliegenden Mechanismen zu verstehen, ist laut des Spezialisten Grundlage für eine neue Generation von vielversprechenden Immuntherapien gegen Krebs und darüber hinaus. Dabei ist ihm ein erster Durchbruch bereits gelungen.
Prof. Mougiakakos war einer der ersten Experten deutschlandweit, der die sogenannte CAR-T-Zell-Therapie klinisch einsetzte. Für internationale Beachtung sorgte dabei die weltweit erste erfolgreiche CAR-T-Zell-Behandlung einer Patientin mit einer schweren Form der Autoimmunerkrankung Systemischer Lupus Erythematosus. Mougiakakos, der in diesem Fall mit Forschenden des Deutschen Zentrums für Immuntherapie des Universitätsklinikums Erlangen zusammenarbeitete, erinnert sich: „Wir waren überrascht, wie schnell sich ihr Zustand unmittelbar nach der Infusion besserte. Denn eigentlich wird dieses innovative Therapieverfahren aktuell nur bei bestimmten Blut- bzw. Lymphdrüsenkrebserkrankungen eingesetzt.“ Es folgten weitere Patienten und Patientinnen mit Autoimmunerkrankungen, die alle auf das neuartige Therapieverfahren angesprochen haben.
Ein Schwerpunkt der Forschung ist der Zellstoffwechsel, seine Veränderungen durch äußere Einflüsse und seine funktionellen Auswirkungen, die hier mithilfe der Flux-Analyse in Echtzeit gemessen werden. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Diese Therapie ist der jüngste Meilenstein in der Krebsbehandlung. Seit Februar 2023 kommt das Verfahren auch an der Universitätsmedizin Magdeburg zum Einsatz – bei Betroffenen mit bestimmten Blut- bzw. Lymphdrüsenkrebserkrankungen bzw. bei denen, wo die konventionellen Chemotherapie-basierten Verfahren versagen. Mougiakakos erklärt: „Wir nutzen die eigenen Immunzellen des Patienten. Dazu isolieren wir die T-Lymphozyten des Patienten, manipulieren sie genetisch so, dass sie den Tumor besser erkennen können und geben sie dem Patienten quasi als lebendiges Medikament in Form einer Infusion wieder zurück.“ Was so simpel klingt, beruht auf komplexen Prozessen der Immunabwehr.
Die T-Zellen gehören laut Mougiakakos zur „Polizei des Körpers“, denn sie entdecken und bekämpfen täglich tausende Bakterien, Viren und andere Krankheitserreger. Vor diesen Immunzellen können sich Krebszellen verstecken. „Damit die T-Zellen die Krebszellen trotz ,Tarnung‘ wiedererkennen, wird bei der CAR-T-Zell-Therapie die T-Zelle genetisch so modifiziert, dass sie auf ihrer Oberfläche einen sogenannten namensgebenden chimären Antigen-Rezeptor (CAR) trägt. Dieser funktioniert wie ein Sensor – eine Mischung aus Antikörper und T-Zell-Rezeptor. Mit diesem Sensor kann die Krebszelle nun wiedererkannt und effizient zerstört werden.“
Diese „optimierten“ T-Zellen, die der Patient als Infusion zurückerhält, vermehren sich rasant und können noch jahrelang aktiv bleiben und damit einen Rückfall der Erkrankung verhindern. Mougiakakos blickt deshalb optimistisch in die Zukunft: „Für Patienten mit bestimmten Formen von Blut- oder Lymphdrüsenkrebs, die nicht auf eine herkömmliche Chemotherapie ansprechen bzw. mehrfach einen Krankheitsrückfall erlitten haben, zeigen diese Chemotherapie-freien, zielgerichteten Immuntherapien bislang sehr vielversprechende Behandlungsergebnisse.“ Allerdings ist die Therapie mit bis zu fünf Wochen Herstellungszeit und Kosten von bis zu 300.000 Euro äußerst aufwändig und kostenintensiv.
Bei der Entwicklung neuer Ansätze setzt Mougiakakos vor allem auf eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Mit seinem Team aus Ernährungswissenschaftlern, Biochemikern, Biologen und Medizinern interessiert ihn insbesondere, wie Tumorzellen mit ihrer Umgebung, dem sogenannten Tumormikromilieu, kommunizieren und welchen Einfluss das auf eine erfolgreiche Tumorabwehr hat. „Unsere Forschung zeigt, dass Stoffwechsel und Immunantworten sehr eng miteinander verknüpft sind. Das Entschlüsseln der dabei zugrundeliegenden Mechanismen soll uns mittelfristig helfen, sowohl patienteneigene Immunantworten zu verstärken als auch die Effizienz immuntherapeutischer Ansätze zu optimieren“, erklärt der Professor, der unter anderem an der Universität Pennsylvania in Philadelphia (USA) sowie am durch das Nobel-Komitee bekannte Karolinska-Institut Stockholm (Schweden) forschte.
Langer Weg zur klinischen Anwendung
Das Team nutzt vermeintliche Schwachstellen der Tumorzellen als mögliche therapeutische Ziele aus. Denn wie alle Zellen in unserem Körper sind auch Krebszellen darauf angewiesen, mit ausreichend Nährstoffen versorgt zu werden. Im Vergleich zu normalen Zellen sind Krebszellen allerdings besonders hungrig. Sie wachsen und teilen sich schneller und verbrauchen demnach auch mehr Energie. „Dabei stehen Krebszellen im Wettbewerb mit den Immunzellen und entziehen diesen wichtige energetische Substrate, die sie eigentlich zur Tumorbekämpfung benötigen. Tumorzellen produzieren durch ihre erhöhte Stoffwechselaktivität obendrein noch zahlreiche schädliche Abbauprodukte. Das heißt, das Immunsystem wird geschwächt, weil es gleich zwei Herausforderungen ausgesetzt ist. Ein Teil der Arbeit besteht deshalb darin, gezielt in die Abläufe einzugreifen, die für Wachstum oder Stoffwechsel von Tumorzellen wichtig sind.
Mithilfe bildgebender Verfahren können die Wissenschaftler unter anderem ermitteln, wie gut und wie häufig Immunzellen unter verschiedenen Bedingungen Tumorzellen fressen und damit verbesserte Zell- und Immuntherapien entwickeln. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Ein weiterer Ansatz ist die zielgerichtete Reprogrammierung von körpereigenen Immunzellen. Die Herausforderung: „Immunzellen stehen in ständigem Austausch mit ihrer Umgebung und können deshalb nicht in dem Maße kontrolliert werden, wie wir das am liebsten tun würden. Das ist schon eine Blackbox. Deshalb gibt es nach wie vor Patienten, die auf moderne Therapeutika noch nicht gut ansprechen“, erklärt Mougiakakos.
Dennoch: In einem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützten Projekt konnte die Arbeitsgruppe von Mougiakakos zusammen mit Forschenden aus Erlangen, Regensburg und Würzburg wichtige Erkenntnisse zur Immunantwort nach einer Stammzelltransplantation gewinnen, eine für Patienten mit Leukämie lebensnotwendigen Behandlung. Die Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass Schäden in der DNA von T-Lymphozyten in den ersten sechs Wochen nach Transplantation mit funktionellen Defiziten, einem erhöhten Rückfallrisiko und einer schlechteren Gesamtüberlebensrate verbunden sind. Das Team arbeitet nun daran, die DNA-Reparatur von T-Lymphozyten und damit ihre Effektivität im Kampf gegen die Leukämie zu verbessern.
Für Mougiakakos steht fest, dass sich mit diesen neuen Ansätzen in der Gen- und Immuntherapie immer mehr Therapiemöglichkeiten ergeben werden. „Das bedeutet, dass wir immer zielgerichteter behandeln können und beim nicht Ansprechen auf bestimmte Therapien weitere Alternativen zur Verfügung haben. Der Weg in die klinische Anwendung ist für die meisten Ansätze lang, da natürlich all diese spannenden Erkenntnisse sehr intensiv geprüft werden müssen, bevor sie an den Patienten erprobt werden. Aber genau das ist es, was Wissenschaft am Ende ausmacht.“
Guericke facts
- Leukämien sind im Vergleich zu anderen Krebserkrankungen, wie z. B. Brust- oder Lungenkrebs relativ selten. Pro Jahr erkranken in Deutschland rund 13.700 Menschen an Leukämien.
- Für einen Durchbruch in der Krebstherapie sorgten die Arbeiten der Forscher Tasuko Honjo und James Allison, die 2018 mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet wurden. Sie entdeckten zwei entscheidende Proteine, die als Bremsen in der Immunabwehr wirken. In der Folge konnten neue Medikamente – sogenannte Checkpoint-Inhibitoren – entwickelt werden.