In den letzten Monaten konnte man es immer wieder in den Zeitungen und Medien lesen: Immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus. Aber woran liegt das? Sind Kirche und Religion einfach nicht mehr zeitgemäß, oder hat die Kirche nach zahlreichen Skandalen einfach einen schlechten Ruf? Über die möglichen Gründe spricht der Soziologe Dr. Jochen Töpfer im Interview.
Unter anderem bei der „Zeit“ hieß es, dass die Zahl der Kirchenaustritte auch 2023 hoch blieb. Stimmt das denn? Und haben Sie da konkrete Zahlen?
Dr. Jochen Töpfer: Ja, also das kann ich erstmal bestätigen. Die Zahlen der Kirchenaustritte sind 2023 hoch geblieben und sind fast noch höher gegangen, wegen der ganzen Skandale, die immer noch blieben. Die konkreten Zahlen sind, dass jedes Jahr ungefähr 300.000 Menschen aus der katholischen und auch der evangelischen Kirche austreten. Die Zahlen sind für beide Kirchen gleich hoch.
Ist es denn ein ostdeutsches, europäisches oder gar ein weltweites Phänomen?
Dr. Jochen Töpfer: Dass Leute aus der Kirche austreten, ist, würde ich sagen, ein europaweites Phänomen. Das Niveau an Mitgliedern ist in Sachsen-Anhalt und in Ostdeutschland viel niedriger. Aber weltweites Phänomen würde ich nicht sagen. Weltweit sehen wir eine ganz hohe Variation von Kircheneintritten. Das bezieht sich immer auf Südamerika, Lateinamerika, oder auch Afrika, dort wachsen die Kirchen. Aber dass so immens ausgetreten wird, das ist eigentlich ein Phänomen, was in Europa stattfindet.
Gibt es denn in Deutschland Unterschiede zwischen Stadt und Land?
Dr. Jochen Töpfer: In Deutschland gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land und auch zwischen den Regionen. In Sachsen-Anhalt oder in Ostdeutschland allgemein ist die Kirchenmitgliedschaft so gering, dass es fast schon keinen Unterschied mehr macht zwischen Stadt und Land. Wenn wir in eine andere Region in Deutschland blicken, zum Beispiel nach Bayern, da ist es so, dass natürlich die Stadt wie schon seit Jahrhunderten als progressives Element gilt und dort eigentlich höhere Kirchendistanz vorhanden ist und auch die Zahl der Austritte höher ist. Die Gründe sind einfach, dass es dort auch mehr Angebote gibt, das Leben zu gestalten.
Sie hatten ja am Anfang schon Skandale angesprochen. Denken Sie denn, dass die Menschen beim Kirchenaustritt dem Glauben abschwören oder doch eher die Institution abwählen?
Dr. Jochen Töpfer: Das untersuchen wir gerade in unserem Seminar hier in Magdeburg. Das ist vielfältig gelagert. Dem Glauben abschwören, das klingt so radikal, als ob man mit einem Tag einen Schritt macht. So ist es nicht. Es gibt Leute, die aus der Kirche austreten, weil sie den Glauben verlieren. Das ist aber vielfach ein Prozess von Jahren und Jahrzehnten. Oft ist es so, dass man durch die Eltern noch religiös sozialisiert wurde, aber sich anschließend individuell Gedanken gemacht wurden: Wie lebe ich den Glauben? Brauche ich den Glauben? Ist das für mich das Richtige? Und das ist manchmal auch eine lebenslange Entscheidung im Zweifel. Also Sie haben ehemalige Kirchenmitglieder, die sind jetzt 60, 70 Jahre alt, sind vor 30 Jahren aus der Kirche ausgetreten, und hadern noch immer damit. Es sind manchmal lebenslange Prozesse. Man muss aber dazu sagen: sowohl als auch. Natürlich steht die Institution ja nicht außen vor und ist ebenso ein gewichtiger Faktor, gerade mit den Ereignissen, die Sie angesprochen haben. In unserem Seminar haben wir eigentlich festgestellt, dass weniger Verlust an Glauben da ist, als Verlust an Vertrauen in die Institution. Das ist eigentlich das, was Kirchenaustritt vielfach charakterisiert, dass man den Glauben `mitnimmt` und dann für sich oder in kleineren Gemeinschaften glaubt. Dass man sagt: „Wir sind Kirche, auch wenn wir uns zu fünft in meinem Zuhause versammeln“. Die Institution selbst hat viel dazu beigetragen, dass die Kirchenmitgliedschaft geringer wird.
Wann begann denn diese Entwicklung und wo sehen Sie denn die Gründe dafür?
Dr. Jochen Töpfer: In Deutschland ist es so, dass seit Beginn der umfassenden Modernisierung vor 150 Jahren auch die Kirchenmitgliedschaft nachgelassen hat. Am Anfang natürlich nicht so stark, weil die Kirche noch die gesamte Gesellschaft abgebildet hat und dort hoher sozialer Druck existierte. So hat sich mentale Kirchendistanz wenig geäußert. Man ist trotzdem zur Kirche gegangen, weil das Umfeld es sehen wollte, sagen wir mal um 1880 oder 1890. In aufstrebenden Großstädten sah man einen Verlust der Abdeckung der ganzen Bevölkerung durch die Großkirchen in Deutschland. So würde ich den Bedeutungsverlust nicht nur an der DDR festmachen oder an bestimmten Momenten, sondern als langfristigen Prozess sehen. Wir hatten Großstädte in Deutschland in den 1920er Jahren, in denen viele diverse Lebensentwürfe vorhanden waren und dort dann der Startpunkt war der größeren Nicht-Gebundenheit zur Kirche. Zu dieser Zeit lagen aber keine oder wenige soziologische Instrumente vor, diese Entwicklung zu messen; und auch die Kirche hatte kein Interesse. Zu der Zeit hat man den Kirchgang gemessen, aber nicht die Gründe. Es wurde nicht gefragt, ob sie alle Rituale kennen, zum Beispiel. Das wäre eine `organische` Entwicklung der Kirchendistanz. Aber es gibt ja auch abrupte Momente in der Geschichte, wie zum Beispiel die beiden Weltkriege, wo viele Menschen aufgrund des großen Leids ihren Glauben und die Religion verloren haben. Ein Zitat, was viele ältere Menschen wahrscheinlich nachvollziehen können: „Wie kann Gott so etwas zulassen?“. Durch das Grauen des Krieges haben viele auch den christlichen Glauben verloren. Die Zeit zwischen 1933 und 1945 war zudem geprägt durch die nationalistische Umdeutung der Kirche und des Christentums. Und dann natürlich die staatlichen Eingriffe in der DDR, welche die Kirchen ihrer Öffentlichkeit beraubt haben. Man konnte zur Kirche gehen, aber der Kirche war nicht mehr erlaubt, in die Gesellschaft zu wirken, und wurde durch die Staatssicherheit `zersetzt`. Das hatte natürlich auch hohen Einfluss. Vielfach wird die Zeit zwischen 1945 und 1989 als alleiniger Faktor dargestellt, wenn die geringe Religionszugehörigkeit in Ostdeutschland erklärt wird. Es war es ein tiefer Eingriff, einer unter vielen Faktoren.
Kann man denn aus den Zahlen schließen, dass die Menschen einfach nicht mehr an einen Gott glauben? Wird in unserer aufgeklärten Welt der christliche Glaube zunehmend ersetzt? Oder sehen Sie Defizite bei der Betreuung oder auch Begleitung der Gemeinden?
Dr. Jochen Töpfer: Ja, schwierige Frage, ob die Menschen einfach nicht mehr glauben. So einfach ist es nicht. Austritt hat auch viel auch mit der Institution zu tun. Dass man davon enttäuscht ist, aber dass man seinen Glauben mitnimmt und dann allein praktiziert. Vielleicht kann man es so sagen, dass viele Menschen nicht mehr an dieses christliche, starre Konzept von Religiosität glauben. Dass man sagt: `Vielleicht ist es nicht ein männlich gedachter Gott (der mich zentral durch die Kirche anspricht), sondern eine für meinen Wandel in dieser Welt schöpfende oder leitende Denkfigur. Vielleicht ist es etwas anders gelagert, als es der christliche Glauben oder die Kirche vorschreiben.` Ich würde sagen, das geht dann in Richtung Spiritualität. Sie ist natürlich schwerer messbar als christlich-kirchliche Einstellungen. Ja, sie glauben vielleicht nicht mehr an Gott, aber sie glauben möglicherweise an etwas anderes. Und wenn man an seine tote Großmutter glaubt, die einen durchs Leben begleitet, dann ist das ja ähnlich wie eine ordnende oder anleitende Macht, die jemanden im transzendenten Raum beisteht. Deswegen finde ich diese zweite Frage äußerst interessant: Wird in unserer aufgeklärten Welt der christliche Glaube zunehmend ersetzt? Progressive Religionssoziologen stimmen dem zu. Aber wir haben noch keine adäquaten Messinstrumente, um diese Substitute adäquat und präzise zu benennen.
Gewagte Studien postulieren, der Kapitalismus agiere wie ein religiöses System. Geld wird angebetet, Banken und Börsen seien heilige Stätten, und so weiter und so fort. Das ist jedoch allein materielle Anbindung. Nicht wie ein christlicher Glauben, der wirklich alles erklären will. Und ein Glaube an Materielles kann nicht alles erklären. Das sind vielleicht Substitute, bei denen jedoch nicht das gefunden wird, was eine Religion geben kann. Das kann kurzzeitig ein Aha-Erlebnis geben. Ich habe ein neues Auto, oder ein neues Gerät, zum Beispiel ein Handy, und fühle mich jetzt ein, zwei Tage gut. Aber das ist etwas anderes, als wenn einem eine ordnende Macht immer Zuspruch gibt, egal in welcher Situation, ob man Geld hat oder nicht. Religion ist ja für alles da. Und deswegen sehe ich in dieser Umfassenheit von traditioneller Religion eigentlich bis jetzt nichts, was dies bisher kohärent ersetzt.
Defizite bei der Betreuung und Begleitung der Gemeinden…ja, würde ich auch sagen. Wir stellen Defizite fest in der Betreuung und der Begleitung der Gemeinden. Ein ganz plausibler Grund ist zum Beispiel, dass sich Mitglieder nicht gesehen fühlen vom Pfarrer und dass diese persönliche Bindung fehlt. Es ist so, dass dieser Pfarrer eigentlich der Knackpunkt ist zwischen Gläubigen und Kirche. Er macht diese Kirche habhaft und menschlich. Wenn Sie heute in die Kirche gehen, das ist ein riesiges Gebäude mit vielen Erzählungen. Und das muss mir ja einer erklären, das muss ja in den Kontext eingebettet werden. Der Profi ist natürlich die Gemeinde oder der Priester selbst. Und da sehen wir schon, dass sich viele Leute auch alleingelassen fühlen. Dass ein Priesterberuf, wie schon Max Weber sagte, eigentlich Berufung sein muss. Das kann man nicht machen als normalen Beruf, bei dem nach acht Stunden Schluss ist. Das geht nicht. Also das müssen sich auch Geistliche genau vor Augen führen. Was bedeutet dieser Beruf, wenn ich Theologie studiere? Und was ist Begleitung der Gemeinden? Ich habe den Eindruck, dass die Gemeinden selbst in Form von einem Gemeindekirchenrat, schon sehr, sehr viel nachdenken und dass da sehr viel Leben ist. Was auch manchmal, wenn ich jetzt zur katholischen Kirche blicke, erstickt wird, weil dann zu viel Aktivität drin ist. Aber das würde es für die Leute wieder attraktiver machen auch zu kommen. Bei der Begleitung aus Gemeinden kommt es immer auf die Leute an, die in der Gemeinde sind. Das ist ein anderer Ansatz. Ich glaube, Kirche muss lernen, dass von unten mehr gemacht werden muss, um attraktiv zu sein. Es gibt auf der anderen Seite Mitglieder.
Was sind denn sonst noch weitere Gründe, warum Menschen aus der Kirche austreten?
Dr. Jochen Töpfer: Wenn wir auf den Kirchenaustritt schauen, haben wir drei Gruppen gefunden. Ich zitiere jetzt unsere lokale Studie, weil ich diese vor Augen habe. Ich könnte natürlich jetzt auch größere Studien, quantitative Studien darbieten, aber für Magdeburg ist das vielleicht interessant.
In der ersten Gruppe sollte die Kirche mit gesellschaftlichen Entwicklungen mitgehen und versuchen, auch auf die Differenzierung in der Kirche einzugehen. Zum Beispiel, dass es auf gleichgeschlechtliche Partner gibt, dass sich Differenzierung äußert, darauf soll die Kirche eingehen. Es sind viele Leute ausgetreten, weil das nicht passiert ist. Die Kirche ist nicht auf mich eingegangen, die Kirche hat mich blockiert, ich wollte ja etwas machen. Das war die größte Gruppe. Die zweite Gruppe war die, die sich vom Pfarrer nicht angesprochen fühlte. Hier war dieses persönliche Moment stark, dass man früher noch abgeholt wurde, vielleicht von dem Pfarrer davor. Und der Pfarrer, der die Stelle dann besetzte, nicht so agiert hat, wie man es erwartet hat. Und die dritte Gruppe hatte auch etwas mit dem Pfarrer zu tun, aber da weniger im Pfarrer als Mensch, sondern dort Pfarrer als Anleitung. Als Pfarrer, der mir die Rituale ganz sauber, ganz präzise vorführt. Es sind auch Leute ausgetreten, die den Glauben ganz stark behalten haben und gesagt haben: „Aber der Pfarrer macht das nicht mehr richtig.“ Also waren Leute enttäuscht, weil sie nicht mehr diese strikte Anleitung hatten.
Was auch interessant ist: Wir haben auch Typen von Mitgliedschaft untersucht. Warum bleibt man in der Kirche? Mein Seminar heißt „Warum verlassen viele mit der Kirche, und warum nicht?“ Es ist ja auch interessant bei den ganzen Skandalen zu fragen. Ja, und bei den Mitgliedern hatten wir viel mehr Rücklauf. Die wollten sich äußern, ganz stark. Und auch hier haben wir viel Kritik vernommen. Hier wurde teilweise gefordert: „Geben Sie uns mehr Gründe für den Austritt.“ Wir dachten, da kommen mehr Gründe für den Verbleib. Warum bleibt man in der Kirche? Aber da gab es ganz viele Kritikpunkte, auch unter den Mitgliedern. Aber sie bleiben dann doch wegen des Umfeldes, bleiben vielleicht für die Ehefrau da, für die Liebe, oder für einen bestimmten Rahmen, weil man an seine Angehörigen denkt, die vielleicht schon verstorben sind. Aber es hat sich ein großer Unmut geäußert, auch unter den Mitgliedern, die gesagt haben: „Ich bin doch gar nicht mehr Mitglied hier.“ Dann sagte ich: „Aber Sie sind doch Kirchenmitglied.“ Antwort: „Ja, aber ich habe mich geistig schon verabschiedet.“ Also auch unter den Mitgliedern gibt es eine große Distanz, aber nicht zum Glauben, sondern zur Institution Kirche. Und das muss ich auch noch mal erwähnen, dass die Mitglieder wie die Ehemaligen selbst, eine sehr, sehr große Unterscheidung machen zwischen Glauben und Institution. Es wünschen sich, glaube ich, ganz viele, dass Glaube auch authentisch gelebt wird. Dass man sagt, wir teilen, und dass dann aber auch Woelki teilt. Und nicht nur der Gläubige in Magdeburg teilt.
In Sachsen-Anhalt wird der Zugehörigkeit zu einer Weltreligion europaweit die geringste persönliche Bedeutung beigemessen. 72 % fühlen sich laut MDR Sachsen-Anhalt keiner Religion zugehörig. Ist das ein Resultat aus der Zeit der DDR?
Dr. Jochen Töpfer: Ich würde eher sagen, es ist dadurch auch bedingt. Es ist natürlich auf DDR-Zeiten zurückzuführen, dass so eine hohe Prozentzahl sich gar nicht mehr einer Religion zugehörig fühlt. Aber nicht nur. Also das hat immer mehrere Gründe. Dann ist natürlich die DDR-Zeit ein ganz starkes Moment. Zwei große Kämpfe gab es zwischen Kirche und Staat schon seit den 40er und 50er Jahren, das war der Kampf um die Schule und der Kampf um die Jugend. Jugendweihe oder Konfirmation. Zu sehen, dass die Kirche wenig Einfluss auf die Jugend hat. Und das ist genau ein Punkt, wenn der Glaube nicht mehr authentisch vorgelebt wird. Zuerst durch die Eltern, das Zweite sind natürlich die Lehrer. Und in der DDR durften auch Lehrer sich nicht sich öffentlich äußern, ob sie religiös sind oder nicht. Das sind zwei Knackpunkte, die auf die DDR zurückzuführen sind, dass der Jugend der Kontakt abgeschnitten wurde. Aber alles auf die Zeit der DDR zurückzuführen ist, ist schwierig. Es kommt auch immer darauf an, wie der Sozialismus ausgestaltet wurde. Nehmen wir Slowenien oder Albanien, wo eine kulturelle Zugehörigkeit da ist, aber spirituelle weniger. Also wenn ich es vergleiche, ist es schwierig. Zu vielen Staaten in Europa unterscheidet uns, dass wir Religion nicht als nationale Religion sehen. Im Gegensatz dazu Russland: Die Russisch-Orthodoxe Kirche, national gebunden. Polen: Der Katholizismus wird national und auch nationalistisch interpretiert. Die anglikanische Kirche ist an ein Land gebunden Wir hatten die Reformation und als Resultat zwei Kirchen, die sich gegenseitig relativierten. Man kann nicht sagen, ich bin der und der Kirche zugehörig, deswegen bin ich Deutscher. In dieser Region würde man eher sagen, ich bin keiner Religion zugehörig, also bin ich Sachsen-Anhaltiner, um es mal so zu drehen wenden.
Durch die Kirchensteuer werden auch viele humanitäre und soziale Projekte finanziert, was viele gar nicht wissen, auch für Nichtmitglieder der Kirche. Müsste die christliche Kirche hier mehr Aufklärung leisten?
Dr. Jochen Töpfer: Ja, die christliche Kirche könnte hier mehr Aufklärung leisten, sicherlich. Weil es viel gibt, was die christlichen Kirchen, die evangelische wie die katholische Kirche, machen, was nicht publik wird und was der gesamten Gesellschaft zugutekommt. Also nehmen Sie Pflegedienste oder andere Dinge, wo sie sich mit engagieren, sei es gegen Fremdenhass zum Beispiel. Das sind ja alles Momente, die nicht messbar sind. Aber die zeigen auch der Gesellschaft, wo eine Kirche steht. Hier mehr Aufklärung leisten kann sie auf jeden Fall. Das ist auch die Sicht vieler Mitglieder. Es gibt viele ehemalige Mitglieder, die sagen: Kirche finde ich toll. Und dann kommen genau diese Punkte, das soziale Wirken in der Gesellschaft. Bahnhofsmission, Friedensarbeit in Ländern, wo Krieg herrscht, wo die Kirche nicht Partei ist, aber als Vermittler auftritt. Das sind alles nicht in dem Sinne monetär messbare Dinge, aber das sind alles Dinge, wo Kirche oder organisierte Religion eigentlich viel Integratives tut für Gesellschaften. Und da muss kann sie auf jeden Fall mehr Aufklärung leisten, denn das ist ja, wie sie selbst sagt, eine ihrer Legitimationsquellen `Wir helfen, die Gesellschaft zusammenzuhalten, auch wenn wir wenige(r) Mitglieder haben.`.
Muss sich denn die christliche Kirche erneuern oder eher wieder zurück zu ihren Wurzeln? Und was soll denn Ihrer Meinung nach mit den vielen kulturgeschichtlich wichtigen Kirchen geschehen?
Dr. Jochen Töpfer: Ob sich die Kirche, die katholische und evangelische, erneuern oder zurück zu den Wurzeln will, das kann nur sie selbst beantworten. Das können Religionssoziologen nicht beantworten. Das können Theologen und die jeweiligen Mitglieder. Kirche ist Mitglieder. Wenn wir es so definieren, dann steht ganz klar fest, dass die Kirche sich erneuern sollte. Es gibt auch eine kleine Gruppe, die sagt: Nein, wir müssen wieder zurück zu den Wurzeln, ich will eine genaue Anleitung. Das soll ja auch nicht normativ bewertet werden. Aber Kirche erneuern wird in der Kirche immer aufgefasst mit Angst. Kirche erneuern wird in der Kirche aufgefasst mit: „Wir müssen uns verändern und wir werden dann wie die anderen.“. Jemand in der Kirche hat einmal gesagt: „Dann können wir ja gleich einen Handball-Verein aufmachen“. Aber erneuern heißt ja nicht nur, sich zu politisieren, wie es vielleicht oft gesagt wird, sondern Erneuerung ist, wie Sie es angesprochen haben, auch die Ansprache. Erneuerung heißt, dass man den Pfarrern vielleicht in ihrem Studium auch psychologische Kurse mitgibt oder Kurse, zum Thema: wie gehe ich auf Menschen zu? Also praktische Kurse. Oder: wie komme ich mit IT zurecht? Oder dass man besser über soziale Kanäle Leute erreicht, das ist auch eine Erneuerung. Aber da braucht man ja nicht die Bibel neu schreiben. Das ist nur sich adaptieren zu neuen Kommunikationskanälen. Wenn ich da in mein Forschungsgebiet Südosteuropa blicke, da gibt es Religionsgemeinschaften, die sind sehr im Internet. Also erneuern ja, aber weniger ängstlich. Nein, man kann ja auch eine frische Erneuerung bringen. Ein weiteres Beispiel sind die Kirchen in Amerika. Kirchen erneuern sich, Kirchen konkurrieren um Anhänger. Die Angebote der Kirchen variieren und sind in ihrer Breite attraktiver. Wir hatten selbst in Magdeburg von Mitgliedern Aussagen wie: „Aber in Amerika würde ich wieder in die Kirche gehen, weil man dort fröhlich sein darf“. Das sind Erneuerungspunkte , die nicht die christlichen Glaubensinhalte ändern. So könnten Erneuerung und „zurück zu den Wurzeln“ zusammengeführt werden. Zu sagen, was sind wir eigentlich? Zurzeit hat die Kirche natürlich ein schlechtes Image. Viele sagen: „Wir haben ein schlechtes Image, aber wir tun so viel Gutes.“ Die Mitglieder der katholischen Kirche in Magdeburg sind in der Minderheit. Also es wird sich schon interessiert. Aber Erneuerung und „zurück zu den Wurzeln“ würde ich auch als ein Phänomen betrachten.
Was sollte man mit den vielen kulturgeschichtlichen, wichtigen Kirchen geschehen? Sie sind nicht nur Teil der Kirchen-, sondern ebenfalls der Kulturgeschichte einer Gesellschaft. Nicht allein die Geschichte der Kirche, sondern die Geschichte der Region. Und natürlich besteht Bedarf, das zu schützen. Letztendlich, auch wenn wir das Konzept dahinter nicht favorisieren, zu sagen uns leitet ein Gott und wir haben ein göttliches Weltbild. So gehört es doch zur Geschichte eines Landes dazu, weil unsere Vorfahren diese Gebäude nutzten und diese einen Teil ihrer Welterklärung darstellten. Und Kirchen haben ja auch noch einen Moment, der über das Christliche hinausgeht. Kirchen wurden vielfach gebaut an Orten, an denen vorher nicht-christliche heilige Stätten existierten Unter Kirchen findet sich oft die weitere Geschichte dieses Ortes, dieser Ansiedlung. Und deswegen ist die Geschichte eines Gebäudes vielfältig zu betrachten und nicht nur als das Gebäude selbst, sondern auch soziologisch. Was passierte darin? Wie hat es das Zusammenleben der Menschen beeinflusst? Auch wenn wir heute möglicherweise keine Christen sind, ist es Teil der Geschichte des Ortes.
Vielen Dank für das Gespräch!