Computervisualisten der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg richten den Operationssaal der Zukunft ein: Sie entwickeln Visualisierungstechniken zur Verbesserung der räumlichen Wahrnehmung, erfinden berührungslose Formen der Mensch-Maschine-Interaktion und perfektionieren Virtual-Reality-Simulatoren für das chirurgische Training.
„An Tischen wie diesem werden sich die Ärzte in Zukunft auf Operationen vorbereiten“, deutet Christian Hansen auf den schwarzen Glastisch. Der stellt sich bei näherem Hinsehen als ein riesiges Tablet heraus. Auf dem Monitor ist ein menschlicher Rumpf von innen zu sehen: Die Aufnahmen von Skelett, Gefäßsystemen, Nervensträngen und Organen ergeben ein räumliches Bild – das Anatomielehrbuch als E-Book-Ausgabe? Mehr noch: Juniorprofessor Christian Hansen erklärt die Funktionsweise der Software. Sie bereitet individuelle Daten aus bildgebenden Verfahren wie Computertomografie und Magnetresonanztomografie auf und entwickelt daraus ein dreidimensionales Modell des Patienten. Die Software wurde in enger Kooperation mit Praktikern entwickelt. Christian Hansen nennt Prof. Dr. med. Hermann-Josef Rothkötter vom Institut für Anatomie der Otto-von-Guericke-Universität und die Magdeburger Firma Dornheim Medical Images GmbH.
Computervisualist Hansen demonstriert, wie besonders berührungsempfindlich der Multi-Touchscreen des Tablets ist. Er erkennt Fingergesten und dreht nach deren Anweisung den räumlich dargestellten Bauchraum so, dass die innere Struktur der Leber besser zu sehen ist. „Ein interdisziplinäres Operationsteam könnte an diesem Tisch beraten, auf welche Weise der Eingriff durchgeführt wird“, schaut Christian Hansen in die Zukunft. Seine Forschungsgruppe „Computerassistierte Chirurgie“ ist aktiver Mitgestalter des digitalen Fortschritts, der auch in Kliniken und Operationsräume Einzug hält.
Interdisziplinäre Forschung hinter dem Operationstisch
Christian Hansen ist promovierter Softwareentwickler. Vor vier Jahren kam er an die Otto-von-Guericke-Universität nach Magdeburg „zurück“. Denn im Jahr 2000 schrieb er sich hier als Student für Computervisualistik mit Anwendungsfach Medizin ein. Damals bot noch keine andere Universität den Studiengang in Verbindung mit einem medizinischen Fach. Mittlerweile ist der 37-jährige Juniorprofessor für Computerassistierte Chirurgie auf dem Weg zum anerkannten Experten auf medizintechnischem Gebiet. Derzeit finanziert ihm die Deutsche Forschungsgemeinschaft einen Forschungsaufenthalt an der Harvard Medical School im US-amerikanischen Boston. Dort begibt er sich auf das Terrain der intraoperativen Visualisierung in der Neurochirurgie.
„Wir haben hier in Deutschland vergleichsweise Top-Forschungsbedingungen“, stellt er mit konkretem Bezug auf den Forschungscampus STIMULATE an der Otto-von-Guericke-Universität fest. Das Solution Centre for Image Guided Local Therapies bietet Nachwuchswissenschaftlern modernste Bedingungen, um bildgestützte minimalinvasive Medizintechnikprodukte und -verfahren zu entwickeln. Sie machen operative Eingriffe sicherer, patientenschonender und kostensparender.
Längst sind die Zeiten vorbei, in denen Mediziner als die „Götter in Weiß“ betitelt wurden. Den Erfolg am Operationstisch beispielsweise teilen sie sich auch mit Ingenieuren, Informatikern und Medizintechnikern. Christian Hansen und seine Kollegen hospitieren bei vielen chirurgischen Eingriffen und deren Vorbereitung, um genau zu ermitteln, welche technische Neuerung auch wirkliche Erleichterung bei der chirurgischen Arbeit bringt, aber keine zusätzliche Belastung für das Operationsteam ist.
Mittendrin im chirurgischen Alltag mit der Virtual-Reality-Brille
Die jungen Wissenschaftler haben als einen ihrer Forschungsschwerpunkte die Weiterentwicklung von Virtual-Reality-Simulatoren für das chirurgische Training im Fokus. „Bislang gibt es wenig Soft- und Hardware, die das Training im virtuellen Raum unterstützt. Da ist man in der Pilotenausbildung schon ein gutes Stück weiter“, meint Hansen.
„Setzen Sie die mal auf ...“, Patrick Saalfeld reicht eine dieser großen schwarzen Brillen, die man braucht, um in die virtuelle Realität einzutreten. Der Doktorand beschäftigt sich in Professor Bernhard Preims Arbeitsgruppe „Visualisierung“ mit virtuellen Anatomiesystemen zur Unterstützung der medizinischen Aus- und Weiterbildung.
Mit der VR-Brille am Kopf beginnt nun ein 360-Grad-Rundumerlebnis im Operationsraum – mit echtem medizinischen Personal, mit Originalinstrumenten, mit dem Piepsen der Maschinen und sogar mit dem Chef an der Seite, für den man etwa die Laparoskopie-Kamera, eine Kamera für eine Bauchspiegelung, halten soll – man steht hier mittendrin im chirurgischen Alltag. Im wahren Wortsinne virtuell, real und live wird bei dieser Simulation die Gallenblase mittels minimalinvasiver Operationstechnik entfernt. Sogar Komplikationen wie Blutungen können in der VR-Umgebung simuliert und müssen vom trainierenden Operateur bewältigt werden
Hinter der faszinierenden Mischung aus Wirklichkeit und Fiktion steht eine große Zahl aufwändig gedrehter 360-Grad-Videos aus dem Operationsaal. Sie stellen Szenarien bereit, die während einer Operation ablaufen – wie etwa die Kameraführung bei einem laparoskopischen Eingriff. Entstanden sind die Filme in Kooperation mit der chirurgischen Klinik an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. „Ein Schwerpunkt der chirurgischen Ausbildung dort befasst sich mit minimalinvasiven Eingriffen“, sagt Christian Hansen. Sein Magdeburger Wissenschaftlerteam hat neue Interaktions- und Visualisierungstechniken für virtuelle Operationsräume entwickelt, sodass Trainierende die Instrumente tatsächlich steuern und die Operation durchführen können. „Versuchen Sie das mal“, meint Patrick Saalfeld. Das Führen der mikrochirurgischen Navigationstechnik durch Gefäßsysteme ist in der Tat gewöhnungsbedürftig und will geübt sein, bevor man einen echten Patienten operiert.
Am Uniklinikum Mainz wird der VR-Simulator derzeit in der Ausbildung getestet. Gemeinsam mit den Ärzten und Studierenden dort entwickeln die Magdeburger Wissenschaftler die VR-Software weiter und hinterlegen sie mit einem wachsenden Katalog an Szenarien, die trainiert werden sollen. Die Vision der Softwareentwickler: Anstehende schwierige Operationen können anhand der Patientendaten im virtuellen OP schon vorher erprobt werden.
Der Operationssaal der Zukunft
Schon auf den ersten Blick in den Operationssaal der Zukunft ist festzustellen: Medizinische 3D-Bilddaten sind aus ihm nicht mehr wegzudenken. Innovative Visualisierungstechniken sind in der Entwicklung. Sie sollen die räumliche Wahrnehmung verbessern und den Ärztinnen und Ärzten die Navigation der Instrumente erleichtern. Minimalinvasive Therapien, zum Beispiel von Metastasen in der Leber, erfolgen unter MRT-Bildgebung, während der Patient in der Röhre liegt. Das Forscherteam um Christian Hansen ist da im MRT-Labor von STIMULATE ganz nah dran an der praktizierenden Medizin. Die tendiert zur Behandlung im MRT wegen der guten Kontrastdarstellung von menschlichem Weichgewebe. Das damit auftauchende Problem ist offensichtlich: Wegen der beengten Platzverhältnisse in der zwei Meter langen Röhre hat der Arzt nicht viel Bewegungsfreiheit, um die Einstichstelle schnell zu finden und die Nadel punktgenau zu positionieren.
Doktorand André Mewes demonstriert eine Art „Einparkhilfe“. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit der Entwicklung dieser visuellen Orientierung, wobei der Körper des Patienten zum Bildschirm wird. Die MRT-Aufnahmen des Tumors und seiner Umgebung sowie Navigationshinweise werden in Echtzeit exakt auf die entsprechende Stelle des Patienten projiziert.
Beim zweiten Blick in den Operationssaal 4.0 sind dort auch die Roboter-Kollegen zu sehen; intelligente Maschinen, mit denen sich der Mensch verständigen muss – OP-tauglich versteht sich, schließlich herrschen hier sterile Bedingungen.
Benjamin Hatscher setzt Eye-Tracking-Verfahren ein, um auf einem Bildschirm berührungslos Objekte zu selektieren. (Foto: Harald Krieg / Uni Magdeburg)
Benjamin Hatscher geht in seiner Doktorarbeit verschiedenen Möglichkeiten nach, wie der Operateur in Interaktion mit den medizinischen Bilddaten treten kann, ohne die Hände zu benutzen. Zum einen brauche der ja die Hände zur Navigation der Instrumente, zum anderen müsse das Eingabegerät mit steriler Folie abgedeckt werden, was dessen Bedienbarkeit erschwere, sagt der Doktorand. Er stellt eine ansteuerbare Kameraaufhängung vor, die man sich wie eine Brille auf die Nase setzt. Die eine Kamera verfolgt die Bewegung der Pupille im menschlichen Auge, die andere ist auf den Bildschirm gerichtet. „Beide Kameras kommunizieren in Echtzeit miteinander“, erklärt der junge Wissenschaftler und präsentiert gleich noch die berührungslose Interaktion per Fußsteuerung. Die medizinischen Bilddaten werden im OP mittels Sensoren am Schuh oder über einen taktilen Fußboden angesteuert, der im Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und –automatisierung entwickelt wurde.
Die Universität Magdeburg als begehrte Partnerin in der Medizintechnikbranche
Während der Entwicklung der Demonstratoren hätten er und seine Kollegen den Operateuren oft auf die Füße geschaut, erzählt Benjamin Hatscher. Derzeit werden die Prototypen im Labor der Klinik für Neuroradiologie an der Universität Magdeburg getestet. Und auch im Innovationslabor des Uniklinikums kommen die Entwicklungen auf dem Gebiet der computerassistierten Chirurgie zukünftig zum Einsatz. Im sogenannten INNOLAB IGT (Image Guided Therapies) werden innovative Instrumente und Geräte in Zusammenarbeit mit den Medizinern entwickelt.
Hervorragende Bedingungen wie diese machen die Otto-von- Guericke-Universität Magdeburg mit ihrem Forschungscampus STIMULATE zu einem begehrten Partner für in- und ausländische Firmen der Medizintechnikbranche und gestalten auch die Lehre an der Universität attraktiv. Der internationale Masterstudiengang Medical Systems Engineering erfreut sich großer Beliebtheit. Ebensolche Anziehungskraft hat das Bachelorstudium Medizintechnik. Was die Bewerberzahlen betrifft, ist dieser Bachelorstudiengang inzwischen zu einem der stärksten der Ingenieurwissenschaften aufgestiegen.
Nicht nur die Studierendenschaft profitiert von der Kompetenz vor Ort. Den Partnerfirmen der Uni werden Ausbildungsmodule und Weiterbildungskurse angeboten. Auch Juniorprofessor Christian Hansen ist hier involviert, was Vorlesungen und Seminare zur Medizintechnik betrifft.
Wussten Sie schon, dass...
- ... Deutschland der drittgrößte Produzent von Medizintechnik ist – nach den USA und China?
- ... bösartige Tumorerkrankungen die zweithäufigste Todesursache sind?
- ... der Schlaganfall in den Industrienationen die dritthäufigste Todesursache ist und die häufigste Ursache für Pflegebedürftigkeit bzw. für dauerhafte Behinderungen?
- ... eine Behandlung mit minimalinvasiven Methoden patientenschonend ist? Häufig ist nur ein ambulanter Krankenhausaufenthalt notwendig.
Fakten zum Forschungscampus STIMULATE
- Unter dem Dach von STIMULATE kooperieren mehr als 25 Unternehmen und Forschungseinrichtungen in einer öffentlich-privaten Partnerschaft.
- Über 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Wissenschaft und Wirtschaft arbeiten an Themen zu bildgeführten minimalinvasiven Operationstechniken zusammen.
- Der Bachelorstudiengang „Medizintechnik“ gehört zu den beliebtesten ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen an der OVGU.
- Bereits drei Firmen haben sich am Forschungscampus STIMULATE angesiedelt.