Eine chemische Industrie, die auf nachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energien aufbaut, deren Produkte gut recyclebar sind und deren Bausteine in einer Kreislaufwirtschaft immer wieder neu genutzt werden können. Für viele Ohren klingt das utopisch, für Prof. Dr.-Ing. Kai Sundmacher sieht so die nicht allzu ferne Zukunft der Chemiebranche aus.
Kai Sundmacher ist Professor für Systemverfahrenstechnik an der Universität Magdeburg und Direktor des Max-Planck-Instituts für Dynamik komplexer technischer Systeme (MPI Magdeburg) und betont: „Die chemische Industrie befindet sich in einem tiefgreifenden Transformationsprozess.“ Denn die Branche ist zu immerhin zehn Prozent an den globalen CO2-Emissionen beteiligt. Um die Klimaziele zu erreichen, müssen die Emissionen bis 2050 auf null reduziert werden. Gemeinsam mit zahlreichen Forschungspartnerinnen und -partnern aus unterschiedlichen Institutionen und Disziplinen möchte Kai Sundmacher mit der Forschungsinitiative „Smart Process Systems for Green Carbon-based Chemical Production in a Sustainable Society“, kurz SmartProSys, die dafür notwendigen Verfahren und Prozesse entwickeln. Das Konzept hat das Potenzial zum Exzellenzcluster, sind die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler überzeugt.
Die Kohlenstoffquellen der Zukunft
Wie kann man also Gebrauchschemikalien, Kunststoffe oder Arzneimittel nachhaltig herstellen und nutzen? „Es geht dabei nicht um Dekarbonisierung, denn all diese Stoffe enthalten Kohlenstoff“, erklärt Kai Sundmacher. Dieser darf künftig aber nicht mehr aus fossilen Quellen wie Erdöl oder Erdgas stammen, sondern muss aus erneuerbaren Quellen gewonnen werden: etwa aus Biomasse, aus dem Recycling von Abfällen oder aus der Nutzung von CO2, das als Abgas bei der Produktion in Industrieanlagen oder bei der Müllverbrennung entsteht. „Das sind die Kohlenstoffquellen der Zukunft“, sagt Kai Sundmacher.
Prof. Kai Sundmacher (Foto: Stefan Deutsch / Max-Planck-Institut Magdeburg)
Kunststoffabfälle als Wertstoffe – wie das funktionieren kann, wird etwa am Max-Planck-Institut in Magdeburg erforscht. Ann-Joelle Minor und Ruben Goldhahn (siehe Beitragsbild) – beide promovieren bei Kai Sundmacher – erforschen hier, wie das Recycling dieser Stoffe optimiert werden kann. Statt sie wie bisher aus Rohöl herzustellen, sollen sie im Sinne einer Kreislaufwirtschaft immer wieder neu genutzt werden. Während Ruben Goldhahn dafür im weißen Laborkittel mit chemischen Reaktionsgefäßen, Lösungsmitteln und Kunststoffen hantiert, sitzt Ann-Joelle Minor vor dem Bildschirm ihres Computers und simuliert mithilfe mathematischer Modelle, welche chemischen Reaktionen dabei ablaufen und welcher Prozess dafür am geeignetsten wäre. Laborexperimente und Computersimulationen sind hier eng miteinander verzahnt und profitieren voneinander: Experimentelle Daten füttern die mathematischen Modelle, die wiederum Vorschläge für lohnende experimentelle Ansätze liefern. Das spart Zeit und Ressourcen.
„Wir konzentrieren uns auf eine spezielle Klasse von Kunststoffen, die Polyamide“, erklärt Ruben Goldhahn. Polyamid 6 – bekannt unter dem Handelsnamen Nylon – ist wohl das bekannteste Polyamid, das nicht nur in Strumpfhosen, sondern auch in Fischernetzen, Bootsrümpfen oder Teppichen steckt. Wie viele andere Kunststoffe auch, besteht es aus identischen Bausteinen, die wie auf einer Perlenkette aneinandergereiht sind. Chemisch kann man diese Ketten mit Lösungsmitteln „depolymerisieren“ – also in ihre Einzelbausteine zerlegen. Aus der entstehenden Molekülsuppe können die einzelnen Bausteine herausgefischt und anschließend wieder neu zusammengesetzt werden.
Getrocknetes und gereinigtes Polyamid 6 nach dem Auflösungsprozess (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
„Polyamide sind ideale Kandidaten für chemisches Recycling“, erklärt Ann-Joelle Minor. „Man benötigt keine hohen Temperaturen, um ihre Bindungen zu brechen und sie lassen sich sehr sauber in ihre Grundbausteine zerlegen.“ Im Gegensatz zum mechanischen Recycling, bei dem der Kunststoff nur begrenzt wiederholt gewaschen, zerschreddert, eingeschmolzen und neu geformt werden kann, lässt sich das chemische Verfahren beliebig oft wiederholen. Dennoch werden weltweit nur etwa zwei Prozent des Polyamids chemisch recycelt, weil sich das Verfahren kommerziell bisher wenig lohnt. Noch ist die Herstellung aus Rohöl preiswerter. Mit ihrer Forschung wollen die beiden Promovierenden das verändern. Sie testen verschiedene Katalysatoren, Lösungsmittel und Verfahren, um Wege für ein ökologisch und ökonomisch verbessertes und optimiertes Recycling zu finden.
Bakterienzellen produzieren Bioplastik
Einem ganz anderen Kunststoff, der nicht aus Erdöl hergestellt wird, sind Prof. Dr. Achim Kienle und Dr. Stefanie Duvigneau vom Institut für Automatisierungstechnik der Universität Magdeburg auf der Spur. Diese entstehen in den Bioreaktoren des Instituts, wo in großen Glasgefäßen in einer blubbernden Nährlösung Abermillionen von Bakterien kultiviert werden. Die Mikroorganismen sind kleine, lebendige Fabriken, die aus Abfall- und Reststoffen Bioplastik herstellen. In der Natur dient der Stoff den Organismen als Nahrungs- und Energiespeicher für schwere Zeiten, der immer dann produziert wird, wenn besonders viel Kohlenstoff und wenig andere Nährstoffe vorhanden sind. Bis zu 70 Prozent der Bakterienmasse können aus Bioplastik bestehen, in genetisch veränderten Mikroorganismen sogar noch mehr. Dieser Reservestoff ist ein wertvoller, vielseitig einsetzbarer Rohstoff der Zukunft.
Achim Kienle nennt den Rohstoff, aus dem das sogenannte Bioplastik hergestellt werden kann, „Biopolymer“. Wie seine Verwandten aus Erdöl besteht dieses aus identischen, miteinander verketteten Einzelbausteinen, wird jedoch unter Umweltbedingungen abgebaut. „Doch Polymer ist nicht gleich Polymer“, betont Achim Kienle. Es gibt Unterschiede in der Elastizität, Stabilität oder Formbarkeit – je nachdem, welche Nährsubstrate die Bakterien erhalten. Das Bioplastik ist also sehr variabel. Mit Experimenten testet das Forschungsteam aus, welche Substrate besonders geeignet sind und wie man das Bioplastik am besten aus den Bakterienzellen herausholt.
Dr.-Ing. Stefanie Duvigneau (links) und Prof. Achim Kienle (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Alles, was in den Bioreaktoren geschieht, wird auch hier in mathematische Modelle übersetzt; Wachstums- und Produktionskurven werden auf Computern simuliert. Stefanie Duvigneau entwickelt diese Modelle mithilfe experimenteller Daten, um einerseits die ablaufenden Reaktionen zu verstehen und andererseits neue Prozesse und Regelungskonzepte zu entwerfen. Schließlich sollen die Bakterien möglichst viel und effizient Bioplastik in der gewünschten Qualität produzieren. Doch nicht nur das: „Wir wollen vom Anfang der Produkte bis zu ihrem Ende alles mitdenken: Vom Nährsubstrat, das etwa aus Abfällen von Biogasanlagen, aus der Lebensmittel- oder der Holzindustrie stammen kann, bis zum Recycling des Bioplastiks“, erklärt die Forscherin.
Verständnis schaffen
Wie sich die chemische Transformation in den Raffinerien und Fabriken künftig umsetzen lässt, wird in den Forschungslaboren untersucht. Wie sie in den Köpfen der Menschen ankommt – das ermittelt die Umweltpsychologin Prof. Dr. Ellen Matthies mit ganz anderen Methoden. Mit ihrem Team arbeitet sie dafür etwa an einer Modellierung von Kohlenstoffkreisläufen, mit denen sich Menschen interaktiv auseinandersetzen können, um ihr Wissen zu schärfen und sich über Vor- und Nachteile verschiedener Strategien zu informieren.
Eine dieser Strategien trägt den Namen Carbon Capture and Utilization – kurz CCU. CO2 aus Industrieprozessen wird in diesem Ansatz nicht nur aufgefangen und gespeichert, sondern in Produkte eingebaut, die eine lange Haltbarkeit haben. Baustoffe oder Autoteile könnten auf diese Weise zu Kohlenstoffsenken werden und dem Kreislauf temporär CO2 entziehen. In experimentellen Studien untersuchen die Forschenden um Ellen Matthies nun, wie gesellschaftliche Einstellungen und Werte das Verständnis und die Akzeptanz solcher CO2-Senkentechnologien beeinflussen, welche Vorbehalte es gibt und wie diese überwunden werden können. Außerdem werden innovative, spielerische Kommunikationskonzepte entwickelt, die technologische Lösungen für den Klimaschutz so darstellen, dass möglichst viele Menschen sie richtig einordnen und notwendige Veränderungen nachvollziehen können.
Prof. Ellen Matthies (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
In der Chemiebranche scheint diese Überzeugung bereits angekommen zu sein. „Unser Forschungsprojekt adressiert ein Thema, das dort absolute Priorität hat. Den Akteuren ist bewusst, dass sich die Produktionsverfahren in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren komplett ändern müssen, um Energie einzusparen und Nachhaltigkeitsziele zu erreichen“, erklärt Kai Sundmacher und mahnt: „Diejenigen, die das verschlafen, werden die Verlierer auf dem Markt der Zukunft sein.“