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06.10.2023 aus 
Forschung + Transfer
Wie verlässlich sind Prognosen bei Wahlen?

Am Sonntag, dem 8. Oktober, wird wieder gewählt in Deutschland: Diesmal geht es um die Landtage in Bayern und in Hessen. Blickt man auf die mediale Berichterstattung, dann begegnen einem regelmäßig erste Zahlen, wie Parteien abschneiden könnten. Aber was genau sagen diese Zahlen eigentlich aus? Wie sehr sollte man sich darauf verlassen? Und sind Prognosen, Hochrechnungen und co alles dasselbe? Darüber spricht Politikwissenschaftler Dr. Benjamin Höhne im Interview.

Wie erwähnt, stehen im Moment wieder Landtagswahlen an – und die Medien berichten fleißig über mögliche Prozente der Partien. Wie und wo entstehen diese Hochrechnungen denn?

Wir sollten unterscheiden: Es gibt Hochrechnungen, die Sonntagsfragen und Prognosen. Woran Sie denken, ist wahrscheinlich eine Prognose, z.B. zu den Ergebnissen der Parteien bei den Landtagswahlen am kommenden Sonntag in Bayern und Hessen. Eine Prognose befindet sich ein Stück weit in einer Grauzone. Das hängt damit zusammen, dass sich das Wahlverhalten in den letzten Jahren stark verändert hat und die Menschen immer kurzfristiger die Entscheidung treffen, welche Partei sie wählen. Manche machen das erst in der Wahlkabine. Das heißt für uns als Forschende, dass es schwerer wird, seriös zu prognostizieren. Daneben gibt es die Hochrechnung, die Sie angesprochen haben. Die ist sehr exakt. Sie ist ein statistisches Verfahren, eine Extrapolation des Wahlergebnisses, das vorweggenommen wird. Bekannt sind Hochrechnungen als die „18:00 Uhr Prognose“. Am Wahltag gibt es um 18 Uhr das erste Wahlergebnis, und das ist eine Hochrechnung. Diese basiert auf einer Wahltagsbefragung. Teams aus Forschungsinstituten stehen an ausgewählten Wahllokalen und befragen stichprobenartig die Menschen, die herauskommen, wie sie gewählt haben. Diese Ergebnisse, die für verschiedene Wahlkreise zusammengefasst werden, sind in der Regel sehr nah am endgültigen Wahlergebnis. Das ist anders als die Prognose eine hochseriöse Sache. Es gibt mehrere Institute, die dies anbieten. Zum Beispiel Infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend und die Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF. Beide öffentlich-rechtlichen Hauptsender in Deutschland haben ein Interesse daran, möglichst exakte Daten abzuliefern. Daneben gibt es Anbieter, die sich manchmal nicht so genau in die Karten schauen lassen und behaupten, dass bei der nächsten Wahl, die Partei X bei einem bestimmten Prozentwert Y ankommen wird.

Beim ARD-Deutschlandtrend hieß es nun vor geraumer Zeit auch, dass die AfD mit 21% ihren Höchstwert erreicht und zweitstärkste Partei ist – ist das dann ein ähnliches Verfahren?

Das war eine klassische Sonntagsfrage. Wählerinnen und Wähler werden gefragt, welche Partei sie wählen würden, wenn am nächsten Sonntag eine Landtagswahl, die Bundestagswahl oder Europawahl stattfindet. Da ist man mitunter schon recht nah dran, aber Einiges kann sich nochmal drehen. Außerdem haben diese Sonntagsfragen ein Stück weit das Problem, dass sie nur sehr geringe Fallzahlen nutzen. In der Regel operieren sie mit 1.000 Menschen, die meistens telefonisch kontaktiert werden. Dabei wird stark auf das Festnetz zurückgegriffen. Gerade junge Leute haben jedoch zunehmend selten einen Festnetz-Anschluss. Die versucht man über Mobiltelefone zu erreichen, wobei das Problem der regionalen Zuordnung aufkommt. Beim Anruf auf einem Mobiltelefon weiß man zunächst nicht: Ist man in Magdeburg, in Halle oder ganz woanders? Auch wenn sich die Institute etwas einfallen lassen haben, um damit umzugehen, bleibt trotzdem das Problem der Erreichbarkeit bestimmter Gruppen. Bestimmte Gruppen verschließen sich Befragungen. Wir wissen zum Beispiel, dass es bei der Bekundung, eine rechtsextreme Partei zu wählen, eine gewisse Zurückhaltung gibt. Deshalb gibt es in diesem Bereich manchmal Überraschungen. Menschen sind gegenüber einer Person am Telefon weniger bereit zu erklären, dass sie eine rechtsextreme Partei wählen. Bei der AfD scheint dieses Muster nicht mehr zuzutreffen: Der Rechtspopulismus erfährt zurzeit einen demoskopischen und elektoralen Aufwind, der in Ostdeutschland nochmal stärker als in Westdeutschland ist.

Haben alle drei Berechnungen, also Hochrechnung, Prognose, klassische Sonntagsfrage, dieselben Implikationen und Rückwirkungen auf Politik und Gesellschaft?

Zunächst haben sie eine Informationsfunktion. Sie dienen dazu, frühzeitig zu informieren. Aber natürlich haben sie auch politische Implikationen. Wenn ich als Wähler oder Wählerin sehe, dass die Partei, die ich favorisiere, unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde liegt, die in der Regel für die Landtagswahlen, aber auch für die Bundestagswahl gilt, dann kann das dazu führen, dass ich diese Partei vielleicht doch nicht wähle und mich für die zweitbeste Option entscheide. Wir sehen mit Blick auf Hessen, aber auch Bayern, dass sich die Linkspartei zum Beispiel deutlich unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde befindet und dementsprechend mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht dem nächsten Landtag angehören wird. Wenn sich das im Vorhinein abzeichnet, wirkt es sicherlich für Einige nicht motivierend aus, die Linke zu wählen. Bei den Hochrechnungen, die am Wahlsonntag mit der 18:00 Uhr Prognose die ersten Ergebnisse präsentieren, werden vorab Informationen gezielt an bestimmte Kreise weitergegeben. Medienschaffende, aber auch Politikerinnen und Politiker, werden am Nachmittag schon darüber informiert: Wie ist der Trend? Welches Ergebnis bildet sich ab? In Bayern dieses Mal besonders interessant: Wie stark ist die AfD? Wie stark sind die Freien Wähler? Medienleute können dementsprechend ihr Programm planen: Wer wird eingeladen? Wer kriegt wie viel Raum für ein Interview? Politikerinnen und Politiker bereiten sich auf dieser Grundlage vor, um mit ersten Statements nach dem Schluss der Wahllokale an den Start zu gehen. Dann geht es um Deutungshoheiten: Wie ist das Ergebnis zu interpretieren? Wer hat gewonnen, wer hat verloren?

Welchen Zweck haben denn diese vorläufigen Berechnungen eigentlich? Zum Beispiel Menschen zu motivieren zu Wahlen zu gehen? Besteht hier nicht die Gefahr, im Vorfeld Wahlverhalten zu beeinflussen?

Man kann nicht von der Hand weisen, dass es politische Implikationen hat. Wenn wir zum Beispiel über Bayern sprechen, sehen wir die CSU bei ungefähr 36 %. Das ist für sie eher schwierig. Die CSU als Volkspartei ist traditionell andere Zahlen gewöhnt, kämpft aber, wie andere Volksparteien auch, mit dem Abstieg. Das heißt, die Leute wenden sich ab von den großen Parteien. Interessant in diesem Zusammenhang ist auch der Skandal mit der Schmähschrift von Herrn Aiwanger, dem Vorsitzenden der Freien Wähler. Er hat die Vorwürfe, die man ihm gegenüber erhoben hat, so gewendet, dass er sich in eine Opferrolle gestellt hat. Man kann jetzt demoskopisch sehen, dass die Freien Wähler offenbar von diesem Schachzug profitiert haben, weil sie bei 16 % landeten, also zugelegt haben. Seither sieht man, wie die Parteien überlegen, wie sie damit umgehen, wie sie darauf reagieren sollen, was sie noch machen können.

Von welchen Faktoren werden denn solche Prognosen, Hochrechnungen und Co. beeinflusst?

In der Wahlforschung gibt es drei wesentliche Faktoren für das Wahlverhalten. Der erste ist die Parteiidentifikation. Das heißt, Menschen identifizieren sich mit einer Partei, als Stammwählerin oder Stammwähler. Das ist eine Art „psychologische Parteimitgliedschaft“. Beispiel sind der gestandene Sozialdemokrat im Ruhrpott, der die SPD wählt, oder in Bayern der katholische Kirchgänger, der die CSU wählt. Das sind typische Stammwählerfiguren. Die Parteiidentifikation ist ein wichtiger Beweggrund zur Wahl zu gehen und sich wieder für die angestammte Partei zu entscheiden. Das passiert mehr oder minder automatisch. Es liegt eine große Loyalität zu dieser Partei vor. Man wählt über Jahre hinweg immer dieselbe Partei. Vielleicht hat sie auch schon der Vater gewählt, die Mutter, die Großeltern. Gerade in der Sozialdemokratie, als ältester Partei in Deutschland, ist dies nichts Ungewöhnliches. Wir sehen aber, dass diese starke Bindung an Parteien nachlässt. Bei jungen Menschen ist sie weniger vorhanden. Im Osten Deutschlands ist sie von vornherein weniger da gewesen, weil sie sich nach 1990 gar nicht so schnell ausbilden konnte. Insofern gewinnen weitere Faktoren an Bedeutung.

Der zweite Faktor ist das Programm einer Partei, das retroperspektiv und prospektiv evaluiert wird. Man schaut, was eine Partei im Parlament tatsächlich umgesetzt hat, was die politischen Kernthemen waren. Prospektiv sind die Wahlprogramme wichtig: Was versprechen Sie? Was will eine Partei erreichen?

Dann wären wir beim dritten Faktor. Das ist die Persönlichkeit. Das sind die Menschen, die zur Wahl antreten, insbesondere die Zugpferde an der Spitze, weniger auch die Kandidierenden in den Wahlkreisen. Auch das Spitzenpersonal auf der Bundesebene ist wichtig, bei Landtagswahlen auch das im Land. Bei den letzten Wahlen hatten die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen immer einen großen Amtsinhaber-Bonus. Diese Faktoren spielen mit rein, wenn Menschen von einem Meinungsforschungsinstitut befragt werden.

Bilden diese Zahlen also tatsächlich eine reale Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt ab? Am 28. September hieß es beim ARD-BayernTrend, dass die CSU 36% erreichen wird – wird das mit großer Sicherheit dann am 8. Oktober das Ergebnis sein?

Nein. Das ist immer nur eine Momentaufnahme an dem Tag, an dem die Befragung stattfindet. Bis zur eigentlichen Wahl kann noch Einiges passieren. Menschen mit hoher Parteiidentifikation werden wahrscheinlich tatsächlich so am Wahlsonntag wählen, wie sie es angegeben haben. Bei den anderen ist es ungewiss. Möglich ist, dass sie sich noch auf den letzten Schritten zum Wahllokal in eine andere Richtung bewegen. Das ist dann wiederum interessant, weil auch die Briefwahl zunimmt.

Bei solchen Statistiken gibt es ja dann auch oft Grafiken, die zeigen, dass zum Beispiel Stammwähler*innen der CSU zur AfD gewechselt sind. Wie wird sowas verlässlich untersucht? Wo kommen solche Zahlen her?

Das sind eher weniger die Stammwählerinnen und Stammwähler. Per definitionem bleiben sie bei einer Partei. Aber wir sehen, dass Parteibindungen brüchiger werden, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Quantitativ nimmt die Anzahl an Personen, die sich als Stammwählerin oder Stammwähler identifizieren, ab. Wir sehen aber auch bei denen, die eine starke Bindung an eine Partei aufweisen, dass diese schwächer werden kann. Das ist der qualitative Aspekt. Dann sprechen wir über den Wechselwähler oder die Wechselwählerin. Sie entscheiden von Wahl zu Wahl, welcher Partei sie ihre Stimme geben, auf Basis von Faktoren, die wir angesprochen haben. Konkret funktioniert das über die Wahltags-Befragungen so, dass die Menschen, wenn sie aus der Wahlkabine herauskommen, befragt werden, welche Partei Sie gewählt haben und welche Partei Sie bei der vorletzten Wahl gewählt haben. Daraus werden die Wählerwanderungs-Bilanzen gewonnen. Im Grunde gibt es unter allen Parteien solche Wechsel. Wir sehen zum Beispiel, dass es mit Blick auf die AfD nicht so ist, dass nur von der CDU Wählerinnen und Wähler wechseln, sondern auch bei den anderen Parteien. Dies betrifft auch die Linkspartei, die SPD, aber so gut wie gar nicht oder nur sehr wenig die Grünen, denn Grüne und AfD stehen sich diametral entgegen. In den Wählerwanderungs-Bilanzen widerspiegelt sich auch, dass die AfD in der Lage ist, aus dem Nichtwählerinnen und Nichtwähler-Spektrum zu mobilisieren. Das heißt sie holt Leute in das System zurück, die beim letzten Mal oder vielleicht schon einige Male gar nicht mehr gewählt haben.

Sollte man sich denn wirklich auf solche Prognosen, wie beispielsweise den ARD-Deutschlandtrend verlassen?

Ich würde generell empfehlen, sich nicht auf Prognosen, Trends und Sonntagsfragen zu verlassen, sondern sich eine eigene Meinung zu bilden. Da gibt es vielfältige Möglichkeiten, sich zu informieren. Die Parteien sind in den Wahlkämpfen so aktiv wie selten. Es gibt Stände, wo man die Politiker treffen und sich vielleicht auch noch einen Kugelschreiber oder Notizblock abholen kann. Da kann man mit den Parteien direkt ins Gespräch kommen. Zudem gibt es den Wahl-Kompass oder den Wahl-O-Mat der Bundeszentrale für politische Bildung. Dieser ist gerade für junge Leute interessant. Es werden den Nutzern verschiedene Fragen gestellt und anschließend wird auf Basis der Antworten eine gewisse Passgenauigkeit zu den unterschiedlichen Parteien angegeben. Dies bietet eine Orientierungshilfe für Leute, die nicht die Muße haben, sich Wahlprogramme intensiv anzuschauen.

Was wäre denn Ihr Tipp: Wenn man sich informieren möchte und einen reellen Eindruck über die momentanen Prozentzahlen der Parteien verschaffen möchte, wie sollte man vorgehen? Welche Zahlen schaut man sich an?

Ich würde sagen, man kann auf die Sonntagsfrage schauen, sie ist ein Stimmungsbild. Man kann auch auf das letzte Wahlergebnis blicken. Ich würde aber raten, gar nicht so auf die Sonntagsfragen zu schielen, sondern sich eine eigene Meinung zu bilden, sich gut zu informieren und am Ende aufgrund der eigenen Werthaltungen und der Versprechen, die die Parteien geben, abzustimmen.

 

Autor:in: Lisa Baaske