Eine Mail aus dem Nordpolarmeer, die bekommt man nicht alle Tage: Geschickt haben sie Dr. Carolin Mehlmann und Prof. Thomas Richter von der Fakultät für Mathematik der Uni Magdeburg. Die beiden befinden sich im Moment auf dem Forschungsschiff „Polarstern“ vom Alfred-Wegener-Institut – und das sogar schon seit August. Die beiden nehmen, gemeinsam mit rund 40 anderen Forschenden, an einer Expedition ins Nordpolarmeer teil, um Daten zur Veränderung der zentralen Arktis im Klimawandel zu erheben. Anfang September haben sie mit dem Schiff den Nordpol erreicht und berichten von ihren Erfahrungen.
„Mit der Polarstern haben wir am 7. September 2023 morgens gegen 8:30 den Nordpol erreicht. Für das Schiff ist es das siebte Mal. Nach einem Tag wissenschaftlicher Untersuchung der Tiefsee und des Meeresbodens exakt am Pol, ging es am 8. September zu weiteren Untersuchungen auf die Eisschicht – denn Land gibt es hier nicht. Draußen sieht es aus wie in den letzten Wochen, nichts deutet auf einen speziellen Punkt hin. Kleinere und größere Eisschollen wechseln sich mit offenen Gebieten Meerwasser ab.
Dr. Carolin Mehlmann vor dem Forschungsschiff Polarstern (Foto: Thomas Richter / Carolin Mehlmann)
Mitte September ist immer der Zeitraum mit der kleinsten Ausdehnung des Meereises. Dennoch: Es ist nicht normal, dass der Nordpol so einfach zu erreichen ist. In den 90er Jahren hat es die Polarstern bei ihrem ersten Nordpolbesuch nur mit einem zweiten Eisbrecher in mühsamer Fahrt geschafft, sich zum Pol durchzuarbeiten. Wir haben in der letzten Nacht die verbleibenden 100 km mit nur 30 prozentiger Auslastung der Maschine gemeistert. Die September-Eisausdehnung in der Arktis ist seit den 90ern um 1/3 zurückgegangen und es gibt auch viel weniger dickes mehrjähriges Eis.
Mathematische Gesetze gelten am Nordpol nicht
Mathematisch ist der Nordpol ein besonderer Ort. Egal in welche Richtung wir gucken, wir schauen immer nach Süden. Es gibt nur noch diese eine Himmelsrichtung. Der Tag ist gerade 24 Stunden lang. Die Sonne hat immer die gleiche Höhe und dreht sich einmal um den Horizont. Bis zum Sonnenuntergang sind es noch zwei Wochen, danach kommt die lange Nacht bis März. Solche Punkte, in denen übliche Regeln und Gesetze nicht mehr in der vertrauten Art gelten, nennt man in der Mathematik Singularitäten. Nordpol und Südpol sind solche Singularitäten und sie bereiten auch in der Erstellung von Klimamodellen ein wenig Kopfzerbrechen.
Im Rahmen eines Forschungsprojektes untersuchen ich, Prof. Thomas Richter, und meine Kollegin Dr. Carolin Mehlmann, wie sich die stark veränderte Eisausdehnung in Klimamodellen richtig darstellen lässt. Gebiete, in denen sich dichte Eisbedeckung mit losen, treibenden und kleineren Schollen abwechseln, werden immer häufiger. Gerade diese Übergangszonen erforscht Carolin Mehlmann in einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt. Hier an Bord des Schiffes untersuchen wir die Drift, also die Bewegung kleiner Schollen, und entwickeln Modelle, wie sich diese Bewegung in Bezug zum Wind und zur Ozeanströmung vorhersagen lässt. Gemeinsam werten wir Kameraaufnahmen vom Krähennest automatisch aus. Das ist der höchste betretbare Bereich auf dem Schiff, der über eine Art Feuerleiter zu erreichen ist.
Von einer Vielzahl von Schollen ermitteln wir mit Methoden der Bilderkennung die Bewegungen und bringen diese mit den Daten zur Windgeschwindigkeit und Ozeanbewegung in Einklang. Informationen zum Wind erhalten wir aus dem meteorologischen System des Schiffes und die Ozeanbewegung liefern uns die mitreisenden Ozeanographen. Schließlich nutzen wir mathematische Optimierungsmethoden, um unsere Modelle zu kalibrieren, d.h., um fehlende Parameter zu bestimmen, die zum Beispiel den Einfluss des Windes auf die Schollenbewegung beschreiben. Um unser Bilderkennungs-System zu überprüfen, sind wir immer wieder mit einem Schlauchboot von der Polarstern aus rausgefahren, um einzelne kleine Eisschollen zu vermessen. In speziellen Überlebensanzügen haben wir die Größe und auch die Dicke der Schollen gemessen. Hierzu bohren wir einmal durch die Scholle und messen die Dicke mit einem speziell präparierten Metermaß: Unsere Scholle war etwa 7 mal 9 Meter groß und hatte eine Eisdicke von 128 cm.
Prof. Thomas Richter und Dr. Carolin Mehlmann vermessen für ihre Berechnungen eine Eisscholle (Foto: Thomas Richter / Carolin Mehlmann)
Für unser mathematisches Projekt sind wir mit dem Magdeburger Hintergrund bestens vorbereitet. Wir arbeiten beide im von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Graduiertenkolleg „Mathematische Modellreduktion Math Core“. Hier forschen wir gemeinsam mit Mathematikerinnen und Mathematikern aus den Bereichen Modellierung, Numerik, Optimierung und Geometrie. All diese Gebiete spielen eine große Rolle für unser Projekt.“
Forschungsprojekt mit Schülerinnen und Schülern
Anfang Oktober wird die Polarstern in ihren Heimathafen in Bremerhaven zurückkehren. Nach der Expedition organisieren die Mathematikerin und der Mathematiker ein Themenjahr „Klimawandel und Mathematik“, im Rahmen dessen sie mit Schülerinnen und Schülern spannende Verbindungen zwischen der Mathematik und den Klimawissenschaften in einer Arbeitsgemeinschaft erforschen werden. Die Anmeldung ist schon jetzt möglich.