„Die Krankheit ist eine Diebin. Anfangs lässt sie einen hier und da Kleinigkeiten vergessen, aber sie ruht nicht, bis sie einem alles geraubt hat. Sie raubt einem die Lieblingsfarbe, den Duft des Lieblingsgerichts, die Erinnerung an den ersten Kuss und die Liebe zum Golfspielen. Ein belebender Frühlingsschauer, der die Erde mit glitzernden Wassertropfen reinigt, wird zu simplem Regen. Duftige Schneeflocken, die die Welt zu Beginn des Winters mit einer weißen Decke schmücken, fühlen sich nur noch kalt an. Das Herz schlägt, die Lunge nimmt Luft auf, die Augen sehen Bilder, aber innerlich ist man tot. Der Lebensgeist ist erloschen. Ich nenne die Krankheit heimtückisch, weil sie einem die Würde raubt – sogar die Seele.“
Mit diesen eindringlichen Worten beschreibt der niederländische Psychologe Huub Buijssen in seinem Buch „Demenz und Alzheimer verstehen“ die heimtückische Krankheit. Dabei ist Demenz der Oberbegriff für viele Erkrankungsbilder, die mit einem Verlust geistiger Funktionen wie Erinnern, Orientierung und Verknüpfen von Wahrnehmung und Gelerntem einhergehen. Rund 60 Prozent aller Demenzen werden durch die Alzheimer-Erkrankung hervorgerufen. Gegenwärtig leben in Deutschland fast 1,6 Millionen Menschen mit einer Demenz- Erkrankung. Die Zahlen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft aus dem Jahr 2016 bestätigen darüber hinaus, dass Jahr für Jahr etwa 300.000 Neuerkrankte hinzukommen.
Das Team um den Physiologen Prof. Dr. Volkmar Leßmann ist federführend in einem internationalen Forschungsprojekt, das erstmals systematisch und interdisziplinär die Wirksamkeit verschiedener Therapieansätze zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen im Tiermodell untersucht, die den Ausbruch der Krankheit verzögern bzw. ihren zerstörerischen Verlauf verlangsamen könnten.
Prof. Dr. Volkmar Leßmann an einem elektrophysiologischen Messplatz, an dem synaptische Signale des Maus-Hippocampus gemessen werden. (Foto: Harald Krieg / Uni Magdeburg)
Bewegungstraining für Alzheimer-Mäuse
Mithilfe biochemischer, elektrophysiologischer und verhaltensphysiologischer Methoden sowie mathematischer Modelle und computergestützter Simulationen sollen krankhafte Veränderungen in neuronalen Schaltkreisen erfasst und Pharmaka sowie andere therapeutische Ansätze ausgetestet werden, die diese Schaltkreise vor Degeneration schützen können. Rund 30 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus acht Forschungsstandorten sind an dem mit 2,3 Millionen Euro von der EU und dem Bund sowie verschiedenen nationalen Förderorganisationen unterstützten und von Professor Leßmann koordinierten Verbundprojekt mit dem Titel „CircProt: Synaptic Circuit Protection in Alzheimer and Huntingtons disease“ beteiligt.
Volkmar Leßmann ist Direktor des Instituts für Physiologie der Universität Magdeburg und untersucht dafür zusammen mit Dr. Thomas Endres und weiteren Wissenschaftlern im Institut das Lernverhalten von sogenannten Alzheimer-Mäusen. Diese Tiere zeigen genetische Veränderungen, die nachgewiesenermaßen zur Alzheimer-Erkrankung führen.
Die Mäuse bekommen die Aufgabe, sich unter dem Einfluss unterschiedlicher Behandlungsstrategien in einem kleinen Schwimmbecken an Bildern räumlich zu orientieren. Gesunde Mäuse sind in der Lage, sich im Laufe der Zeit relativ schnell bestimmte Positionen im Raum, wie z. B. eine Plattform im Wasserbecken, zu merken. Die Geschwindigkeit, mit der die Plattform gefunden wird, ist ein Maß für die Qualität des räumlichen Gedächtnisses, für das die Mäuse Erinnerungen in einer bestimmten Region des Gehirns, dem Hippocampus, abspeichern müssen. Alzheimer-Mäuse machen bei diesem Lernvorgang nur sehr langsam Fortschritte. Bereits im Alter von sechs Monaten, das entspricht in etwa 40 Lebensjahren beim Menschen, zeigen sie klare Defizite gegenüber gesunden Mäusen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen nun herausfinden, ob sich diese Defizite ausgleichen lassen und, ob sich die Lern- und Gedächtnisfähigkeit dieser vorbelasteten Mäuse unter dem Einfluss bestimmter Wirkstoffe bzw. eines umfangreichen Bewegungstrainings im Laufrad verbessern.
Wissenschaftler bauen die Brücke zwischen Molekül zum Gedächtnis
Das Schlüsselmolekül, das bei den Untersuchungen der internationalen Studie im Vordergrund steht, ist das von den Nervenzellen hergestellte Protein BDNF. „Im gesunden Organismus reguliert das Protein BDNF die geordnete Informationsübertragung zwischen Nervenzellen und sorgt dafür, dass Informationen im Gehirn als Gedächtnisinhalte abgespeichert werden. Bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der Demenz können wir sowohl beim Menschen als auch bei Mäusen einen reduzierten Stoffwechsel des Proteins BDNF in den betroffenen Hirnarealen beobachten. Wir vermuten deshalb, dass eine gestörte Funktion von BDNF in den neuronalen Netzwerken den Ausbruch von Demenz-Erkrankungen begünstigt“, so Prof. Leßmann. „Die zellulären Zusammenhänge, wie BDNF den Ausbruch der Demenz verzögern kann, sind aber noch weitgehend unverstanden, was die Entwicklung effektiver Therapien bisher verhindert hat.“
Maus im Labor (c) Harald Krieg / Uni Magdeburg
„Mit Gedächtnistests überprüfen wir regelmäßig das räumliche Orientierungslernen der Tiere. Demente Mäuse werden dabei in zwei Gruppen eingeteilt, eine Gruppe wird behandelt, während die andere als unbehandelte Kontrolle dient“, stellt Professor Volkmar Leßmann dar. „Durch die Bewegung mittels Laufrädern im Käfig können wir beobachten, dass Sport bei den Tieren dazu führt, den BDNF-Level im Gehirn ansteigen zu lassen.“ Durch den positiven Einfluss von BDNF auf die Signalverarbeitung zwischen den Nervenzellen könnte körperliche Aktivität demenzabhängigen Alterungsprozessen im Gehirn entgegenwirken – so die Hypothese.
„Die Wirksamkeit solcher Therapieansätze wird im Prinzip auf drei Ebenen untersucht“, so Volkmar Leßmann. „Erstens auf der Verhaltensebene, das heißt wir untersuchen, wie die Mäuse in den Gedächtnistests mit und ohne Behandlung abschneiden. Anschließend versuchen wir, Lernprozesse und den Einfluss der Wirkstoffe und Therapien auf zellulärer Ebene nachzuweisen. Langfristig ist es unser Ziel, auch auf molekularer Ebene frühe Veränderungen nach Möglichkeit noch vor Ausbruch des Gedächtnisverlustes zu erkennen und sogenannte biochemische Marker zu finden, die mit einem verschlechterten Lernprozess bei Morbus Alzheimer in Verbindung stehen.“ Solche Biomarker ermöglichen ein frühzeitiges Screening, wer eine Anti-Alzheimertherapie erhalten sollte.
Die Wissenschaft im biomedizinischen Bereich sei sehr spezialisiert, erläutert Prof. Dr. Volkmar Leßmann. „Es gibt Labore, die besonders gut sind, um sich Verhaltensveränderungen anzuschauen und andere, die exzellent darin sind, um sich damit assoziierte Veränderungen der elektrischen Signalverarbeitung des Gehirns anzusehen. Weitere Labore, mit denen wir zusammenarbeiten, sind darauf spezialisiert, biochemische Veränderungen in den Nervenzellen zu untersuchen.“ EU-Konsortien, wie die im Rahmen seines Forschungsprojektes, erlauben, vernetzt forschen zu können. Durch das internationale Top-Team, welches molekular und verhaltensphysiologisch in führenden Laboren forscht, sind Ergebnisse nicht auf Zufälle angewiesen. „Und auch das ist es, was Forschung maximal spannend macht: Im Endeffekt von einem Molekül BDNF hin zu einem Lernverhalten und dessen Veränderungen im hohen Alter eine Brücke schlagen zu können – eine Herausforderung, aber unglaublich spannend und nur in solchen Gemeinschaften möglich.“
Mit Informationstechnik das synaptische Netzwerk verstehen
Auch die Informatik spielt eine große Rolle. Ein italienischer Kollege aus Palermo ist zum Beispiel Experte darin, neuronale Netzwerke und die miteinander verbundenen Nervenzellen mit Hilfe des Computers zu simulieren. Für diesen Schritt benötigt er biologische Signale, die an den Synapsen entstehen, also an den Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellen.
Diese Signale werden in den anderen Laboren gemessen und nach Italien geschickt. Der Kollege simuliert dann in einem Netzwerkmodell der miteinander kommunizierenden Zellen, welche Veränderungen es an den Synapsen gibt, wenn Alzheimer-Demenz ausgebrochen ist. Im Vergleich dazu stehen die gesunden Kontrollmäuse. Der Mehrwert des IT-Einsatzes: Die Forscher sind bei einem zukünftigen Medikamentenscreening eher in der Lage, die synaptischen Veränderungen auf dem Niveau der einzelnen Zellen nachzuempfinden und könnten so schneller aus Messergebnissen ablesen, ob eine getestete Substanz wirksam ist.
„Niemand kann sich genau vorstellen oder vorhersagen, wie viele Daten letztendlich von uns gesammelt werden müssen, um mit validen Ergebnissen zu arbeiten, die dann auch auf Menschen übertragbar sind“, vermutet Professor Leßmann. Aber erste Erkenntnisse nach einem Jahr Forschung zeigen: Sport erhöht den BDNF- Level. Ob jedoch auch in den Hirnregionen wie dem Hippocampus, die diese BDNF- Erhöhung zeigen und die eine Schlüsselrolle für das Gedächtnis und Lernen spielen, aus dieser Erhöhung eine bessere Signalverarbeitung der Neurone resultiert, muss weiter untersucht werden. „Wir müssen überprüfen, ob die behandelten Mäuse in dem Gedächtnistest im Alter besser abschneiden als die unbehandelten Mäuse. Wenn das der Fall ist, wird geschaut, in wie weit die verantwortliche Hirnregion veränderte Ströme zeigt, von denen man weiß, dass sie mit gutem Lernen und Gedächtnis korrelieren.“
Demenz könne wohl noch längere Zeit nicht geheilt werden, so der Physiologe. „Aber wir können mit unserer Forschung die Grundlage dafür schaffen, künftig medikamentöse oder Lifestyle-Behandlungen für Menschen zur Verfügung zu stellen, die dafür sorgen, dass die zerstörerische Krankheit verzögert wird und nicht so schnell so schlimm wird. Damit müssen wir so früh wie möglich beginnen.“
Wussten Sie, dass...
... die Physiologie als Teilgebiet der Biologie und der Medizin die Lehre von den physikalischen und biochemischen Vorgängen in den Zellen, Geweben und Organen aller Lebewesen ist?
... die Alzheimer-Krankheit nach dem deutschen Neurologen Alois Alzheimer (1864 - 1915) benannt ist, der die Krankheit erstmals im Jahre 1906 wissenschaftlich beschrieben hat?
... der Hauptrisikofaktor für eine Demenz nach der vorherrschenden wissenschaftlichen Meinung das hohe Lebensalter ist? Das Überwiegen des weiblichen Geschlechts unter den Betroffenen ist wahrscheinlich vor allem in der um einige Jahre höheren Lebenserwartung von Frauen begründet.