Die Historikerin und Geschlechterforscherin der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Prof. Dr. Eva Labouvie, hat den zweiten Band ihres Lexikons „Frauen in Sachsen-Anhalt“ herausgebracht. Im Interview spricht sie über das Buch, ihre Forschung und bedeutende Frauen aus Sachsen-Anhalt.
Mit „Frauen in Sachsen-Anhalt“, das heißt sowohl Band 1 als auch Band 2, würdigen Sie die Leistungen von Frauen, die in Sachsen-Anhalt beziehungsweise auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes gelebt und gewirkt haben. Warum ist das notwendig?
Der erste Band des Lexikons „Frauen in Sachsen-Anhalt“ nimmt die Frauen des Mittelalters bis ins 18. Jahrhundert aus dem Raum Sachsen-Anhalt in den Blick, der gerade erschienene zweite Band ist den Frauen des 19. Jahrhunderts bis 1945 gewidmet. Es handelt sich jeweils um Frauen, die hier geboren wurden, hier lebten oder ihren Lebensabend verbrachten und sich entweder vor Ort oder in einem Wirkungskreis außerhalb Sachsen-Anhalts politisch, gesellschaftlich, sozial, kulturell oder künstlerisch in besonderer Weise engagierten. Die Lexikonbände versammeln einmal in ganz Europa berühmte oder regional wie überregional bedeutende Frauen, die auf sehr unterschiedlichen Ebenen Besonderes, ja Un- und Außergewöhnliches geleistet haben, Frauen also, die in einem solchen Lexikon selbstverständlich nicht fehlen dürfen. Erstaunlich ist freilich, dass nicht einmal die Lebensgeschichten und Aktivitäten dieser damals wie heute bekannten, ja berühmten Frauen adäquat, wissenschaftlich fundiert und frei von Geschlechterstereotypen aufgearbeitet sind. Hier haben sich die allesamt fachwissenschaftlichen Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Europa und Übersee um eine Neu- oder Uminterpretation auf neuester Forschungsbasis und um die Beseitigung alter Mythen bemüht. Eine erste Notwendigkeit, zwei solch arbeitsintensive biographisch-bibliographische Lexikonbände zu erstellen! Vertreten sind ebenso Frauen, die zum Teil heute noch erinnert werden, zu einem größeren Teil aber auch völlig vergessen sind bzw. selbst zu ihren Lebzeiten nur eine regionale Bekanntheit erreichten, oder der weitaus größte Teil Frauen, die trotz ihrer Verdienste nie gewürdigt wurden. Für die Abfassung der Artikel, vor allem zu letzteren Frauengruppen, wurde Grundlagenforschung geleistet. Die zweite Notwendigkeit, derart arbeitsintensive Lexikonbände auf den Weg zu bringen, ergibt sich mithin aus dem Anliegen, diesen Frauen erstmals einen Platz in der Geschichte zu geben. Die Artikel wollen Einblick in das Wirken jener großen Zahl von Frauen geben, die einem Rückholen aus der Vergessenheit, einer „Renaissance“ mit anderen Worten, zum Zwecke ihrer adäquaten Berücksichtigung und Anerkennung im regionalen und überregionalen historischen Gedächtnis, harrten. Sie wollen rehabilitieren, neue Aspekte der regionalen und überregionalen Geschichte sichtbar machen, vor allem neuartige und erstmalige Forschungsergebnisse präsentieren und unsere bisherige Sicht der Vergangenheit verändern, relativieren, revidieren. Es könnten noch viele weitere Notwendigkeiten ergänzt werden.
Die Emanzipierte, Gemälde der Louise Aston von Johann Baptist Reiter (1813-1890), [1847]. Original im Oberösterreichischen Landesmuseum, Linz, mit freundlicher Genehmigung von Dr. Lothar Schultes
Gibt es Epochen und Zeiten, in denen Frauen stärker in der Geschichte in Erscheinung getreten sind als in anderen Phasen der Geschichte?
Ein Unterschied zum ersten Band, der sich mit den Frauen des Mittelalters bis ins 18. Jahrhundert beschäftigt, springt beim zweiten Band sofort ins Auge: Sind es in diesem ersten Band insbesondere adlige, großbürgerliche oder Frauen in hohen Kirchenämtern Mathilde, Edgith, Adelheid, Theophanu, die anhaltinischen Fürstinnen oder die Reichsäbtissinnen von Quedlinburg, gefolgt von Künstlerinnen, gestaltet sich die Bandbreite des Wirkens und auch der sozialen Herkunft der Frauen im zweiten Band sehr viel umfassender. Das 19. Jahrhundert kennt erstmals Großunternehmerinnen, Frauen in den Bildungs-, Hilfs-, Genossenschafts- und Gewerkvereinen, in Frauenvereinen und in der Frauenbewegung, Lehrerinnen, erste Frauenrechtlerinnen oder Fabrikantinnen, im 20. Jahrhundert dann Akademikerinnen, Politikerinnen, Professorinnen, Frauen in politischen Verbänden, Parteien und Gremien, in höheren und höchsten Ämtern, im Widerstand, in den nationalen und regionalen Parlamenten, Schauspielerinnen, Fotografinnen, Spitzensportlerinnen, ja sogar eine Löwenbändigerin. Frauen erschlossen sich also vor allem im Zuge der Ersten Frauenbewegung ab den 1860er Jahren und ihren Forderungen nach weiblicher Bildung, der Einführung des Wahlrechts für Frauen, das sie am 19. Januar 1919 vor genau 100 Jahren erstmals deutschlandweit ausüben durften, und der zunehmenden gesellschaftlichen Anerkennung weiblicher Leistungen, erstmals ganz neue Bereiche. Sie gestalteten und beeinflussten ihre jeweilige Zeit und Gesellschaft maßgeblich und weit umfassender, als es ihnen in den Jahrhunderten zuvor erlaubt war. Daraus ergibt sich, dass sie ab dem 19. Jahrhundert schon rein quantitativ sehr viel umfassender in Erscheinung traten, vielleicht besser: treten durften.
(Wie) Unterscheidet sich Frauengeschichte in Sachsen-Anhalt von der in anderen Ländern oder Regionen?
Auf den ersten Blick nicht. Schaut man aber genauer hin, erschließen sich sowohl im ersten als auch im zweiten Band des Lexikons regionale Besonderheiten: Im Mittelalter mit den mächtigsten Frauen Europas, nämlich den Ottonenfrauen in Magdeburg und Umgebung, oder mit den außergewöhnlichen Mystikerinnen von Helfta, die eine neue Gottessicht in Europa begründeten. Vor allem im 19. Jahrhundert sind es dann wiederum die erstaunlich vielen, im Lexikon oft erstmals porträtierten, politisch engagierten Frauen in den Vereinen, Parteien und Verbänden, den Stadt-, Landes- oder Nationalparlamenten, die zum einen von der politischen Aufgeladenheit, aber auch der enormen und langfristigen Reichweite der weiblichen Emanzipationsbewegung gerade im Raum Sachsen-Anhalt zeugen. Unter dem Vorsitz der berühmtesten Lehrerin Sachsen-Anhalts im „Bund deutscher Frauenvereine", Dr. Gertrud Bäumer, die an einer Magdeburger privaten Höheren Töchterschule unterrichtet und den dortigen Lehrerinnenverein gegründet hatte, wurde übrigens 1918 auch das Frauenwahlrecht in Deutschland erkämpft und eingeführt.
Astrid Krebsbach (Horn) bei den Meisterschaften in Berlin, Fotografie, 1933 (vgl. auch Tafel 10). Archiv Angenendt, Mobiles Tischtennismuseum, Bochum, mit freundlicher Genehmigung von Günther Angenendt
Sie präsentieren Frauen, die zum Teil vergessen wurden, aber auch Frauen, die bisher unbekannt waren. Wonach haben Sie die Biographien ausgewählt?
In den zwei stattlichen Bänden mit insgesamt 949 Seiten, konnten 235 Frauenporträts, verfasst von 146 fachwissenschaftlichen Autoren und Autorinnen aus Deutschland, Europa und Übersee, ausgestattet mit 54 farbigen und 194 schwarz/weißen Bildern, realisiert werden. Allein der gerade erschienene zweite Band kommt auf eine beachtliche Zahl von 139 längeren und mehrseitigen Artikeln und von 141 Kurzdarstellungen, insgesamt also auf eine Präsentation von 280 Frauen und auch dies ist ganz sicher nur ein kleiner Ausschnitt. War die historische Überlieferung also ausreichend, habe ich Artikel an ausgewiesene Autoren und Autorinnen vergeben, lagen zu wenige Informationen vor, verwiesen diese aber auf ein besonderes Engagement, eine außergewöhnliche Tätigkeit oder eine außerordentliche Begabungen, sind Frauen, für die die gesicherten Angaben nicht ausreichten, in einer Liste mit Kurzbiographie im Anhang aufgeführt. Wichtigstes Kriterium, abgesehen von ihrer geographischen Verortung und einer genügenden Quellenüberlieferung, war für alle im Lexikon vertretenen Frauen, dass sie in oder für diesen Raum oder vor dem Hintergrund ihrer Herkunft aus diesem Raum eigene Leistungen und Ideen hervorbrachten oder andere bei deren Umsetzung unterstützten, Effekte durch ihr Wirken in unterschiedlichsten lebensweltlichen, politischen, ökonomischen, kulturellen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Bereichen in Gang setzten oder dass ihre Aktivitäten, Fähigkeiten und Kenntnisse Folgen für die Zeitgenossen und darüber hinaus zeitigten.
Welche Spuren haben die Frauen Sachsen-Anhalts in der heutigen Zeit hinterlassen?
Hier und da gibt es Straßen- oder Brückenbenennungen, Schilder, Tafeln, eine Schule oder ein Krankenhaus, die an die eine oder andere berühmte oder verdienstvolle Frau erinnern. Die Lebensgeschichten dieser Frauen, ihre wechselvollen Schicksale und ihre Leistungen werden zumeist nur sehr eingeschränkt erinnert oder sind vergessen. Wer kennt noch die aus Aken stammende Emilie Winkelmann, die als erste Architektin Deutschlands gelten darf, Claire von Glümer, die als Berichterstatterin 1848/49 aus der Frankfurter Nationalversammlung in der Paulskirche anonym für die Magdeburgische Zeitung schrieb oder Hedwig Forstreuter, die Essays und Reportagen für das Feuilleton der Magdeburgischen Zeitung verfasste und Schriftleiterin beim Feuilleton des General-Anzeigers war. Wo wird an die Staßfurterin Hilde Schrader, die 1928 in Amsterdam den Olympiasieg im Schwimmen errang, wo an die Merseburger Sängerin Elisabeth Schumann erinnert, die unter anderem an der Metropolitan Opera in New York mit Enrico Caruso gastierte und mit Richard Strauss auf Konzertreisen ging? Genau hier setzt das Lexikonprojekt an: Es will die alten und neue Spuren lesen, sie vergegenwärtigen, aber auch dazu anregen, dass die Leser und Leserinnen selbst auf Spurensuche gehen. Daher enthalten alle Artikel an ihrem Ende Verzeichnisse aus gedruckten und ungedruckten Archivquellen, eigenen, v. a. künstlerischen Werken der Frauen, und Bildern, die sie darstellen, sowie wissenschaftlicher Literatur, die dazu anregen und dabei behilflich sein möchten, weitere eigene Forschungen zu betreiben.
Welche Frauengeschichte aus dem Band hat Sie am meisten beeindruckt?
Alle auf ihre Art aber die Pionierinnen des Wortes und der Tat haben mich am meisten berührt. Nicht selten handelt es sich bei den im Lexikon vorgestellten Frauen um die ersten Vertreterinnen eines von oder für Frauen völlig neu erschlossenen Bereichs, etwa mit der erstmaligen Übernahme einer Stelle als Ärztin oder eines Lehrstuhls, aber auch mit dem erstmaligen Verfassen dezidiert politischer oder emanzipatorischer Texte in der Geschichte weiblicher Schriftstellerei. Deshalb ist der Band auch allen Frauen des Lexikons und den in der angehängten Liste in Kurzform dargestellten Frauen ohne Ausnahme oder Präferenz gewidmet.