Unter Experten ist Magdeburg seit vielen Jahren für exzellente Forschungsleistungen auf den Gebieten der Neurowissenschaften (Center for Behavioral Brain Sciences, CBBS) sowie der Immunologie, Infektiologie und Inflammation (Gesundheitscampus GCI³) bekannt. Einen wesentlichen Anteil daran haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Institute und Kliniken der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, die in enger Kooperation mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen arbeiten. Mit der Bewilligung von gleich zwei neuen Graduiertenkollegs (GRK), mit denen sich die Magdeburger Universität bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) beworben hatte, kann ab 2018 der wissenschaftliche Nachwuchs in der Elbestadt weiter gestärkt werden. Das Ziel ist ein besseres Verständnis auf Themenfeldern, die in den kommenden Jahrzehnten unsere Gesellschaft vor große Herausforderungen stellen werden. So geht es um die Frage wie auch im Alter die Gesundheit erhalten und neurodegenerative Krankheiten wie Morbus Alzheimer sowie chronische Volkserkrankungen wie Artheriosklerose, Diabetes mellitus und Adipositas vermieden bzw. behandelt werden können. Beide Graduiertenkollegs werden unabhängig voneinander arbeiten, aber auch die Synergien am Magdeburger Campus nutzen und gemeinsam weiterentwickeln.
Forschung an den molekularen, zellbiologischen und verhaltensbiologischen Konsequenzen von Alterungsprozessen im Gehirn von Nagern und Menschen. (Foto: Harald Krieg / Uni Magdeburg)
Der menschliche Körper, eine Baustelle auf Lebenszeit
Fragt man willkürlich Menschen auf der Straße, wie sie sich das Altern vorstellen, dann befürchten viele die Abnahme von geistigen und körperlichen Leistungen bis zur völligen Hilflosigkeit. Tatsächlich sind bei uns allen viele körperliche und kognitive Alterseinbußen molekulargenetisch vorprogrammiert. Glücklicherweise wirken ständige Umbauprozesse bestehender und die Generierung neuer Zellen diesen Einbußen entgegen. So exisitieren z. B. blutbildende Zellen nur wenige Stunden und werden vom Knochenmark ständig in großer Zahl nachgebildet. Ähnlich kurzlebig sind manche Zellen des Immunsystems, z. B. Granulozyten. Mehrere Tage für die Erneuerung benötigen die Epithelzellen der Haut und die Zellen, die innere Verdauungsorgane wie Magen und Darm auskleiden. Sogar die Knochen werden in Zeiträumen von 25 bis 30 Jahren nahezu komplett „runderneuert“. Nervenzellen hingegen zeichnen sich durch eine besondere Langlebigkeit aus. Noch bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts gingen die meisten Hirnforscher sogar davon aus, dass im menschlichen Zentralnervensystem nach der Geburt nur noch Um- und Abbauprozesse unter den über hundert Milliarden Nervenzellen stattfinden. Tatsächlich konnten mehrere Arbeitsgruppen, darunter am Magdeburger Leibniz-Institut für Neurobiologie zeigen, dass in einem Teil des Gehirns, der essenziell für die Fähigkeit zum Lernen ist, lebenslang neue Nervenzellen entstehen können.
Altern im Kopf: vom Molekül bis zum Menschen
„Die alternde Synapse molekulare, zelluläre und verhaltensbiologische Mechanismen des kognitiven Leistungsabfalls“ heißt das neue Graduiertenkolleg, dessen Sprecherin Prof. Dr. Daniela Dieterich, Direktorin des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg ist. Das GRK umfasst 13 Teilprojekte, die von 11 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern betreut werden. Dabei handelt es sich um Frauen und Männer der Magdeburger Universität, des ortsansässigen Leibniz-Instituts für Neurobiologie (LIN) und des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Ergänzend fachlich beratend sind zudem Experten aus dem In- und Ausland. Alle Forschungsprojekte im GRK verbindet die Hoffnung auf ein besseres grundlegendes Verständnis der Alterungsvorgänge in Neuronen und Gliazellen, welches auch unmittelbaren Einfluss auf neurodegenerative, demenzielle Erkrankungen haben wird. Das ist angesichts der demografischen Entwicklung auch dringend notwendig. Für Industriestaaten wie Deutschland prognostiziert die Weltgesundheitsorganisation WHO bis zum Jahr 2050 nahezu eine Verdopplung der Zahl älterer Menschen von über 65 Jahren. Ziel der WHO und vieler anderer Organisationen im Gesundheitssystem ist es, durch gezielte Prävention und Therapie möglichst viele Menschen zeitlebens geistig und gesundheitlich fit zu halten.
Prof. Dr. Daniela Dieterich. (Foto: Harald Krieg / Uni Magdeburg)
Wichtig dafür ist ein besseres Verständnis der biologischen Alterungsprozesse im Gehirn. Von besonderem Interesse für die Forschenden sind dabei molekulare Umbauvorgänge, die in den Nervenzellen und ihrer Umgebung, insbesondere an den vielen Billiarden Nerven-Kontaktstellen (Synapsen) ablaufen. Man kann sie sich als mikroskopisch kleine Brauseköpfe von Duschen vorstellen. Daraus strömen statt Wassertropfen verschiedene Moleküle, sogenannte Neurotransmitter. Diese werden von anderen „Post-Synapsen“ aufgefangen und weiterverarbeitet. In jungen Jahren sind diese Prozesse sehr dynamisch und das Lernen fällt leicht. Mit zunehmendem Alter reagieren Nervenzellen und Nervenzellnetzwerk weniger flexibel. Aber können die natürlichen Alterungsprozesse auch neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Alzheimer, das Parkinson-Syndrom und die Amyotrophe Lateral Sklerose (ALS) erklären? „Es gibt noch immer viele neurowissenschaftliche Fragen, die bislang nicht zufriedenstellend beantwortet werden können“, sagt GRK-Sprecherin Dieterich. Das erschwert bislang die Entwicklung neuer Therapien, die beispielsweise Morbus Alzheimer heilen oder gar verhindern können. Bislang führten alle Versuche fehl, die im Gehirn von Alzheimer-Patienten massenhaft auftretenden, fehlgebildeten Eiweißmoleküle aus dem Gehirn zu entfernen oder deren Entstehung zu verhindern. Es bestehen sogar grundlegende Zweifel, dass die Menge des „Eiweißmülls“ im Gehirn im direkten Zusammenhang mit der Alzheimer-Symptomatik steht. Zurück zu grundlegenden Studien an der Synapse lautet daher auch die übergreifende Thematik des neuen GRK. Das umfasst Untersuchungen der Stabilität und Variabilität von Synapsen, von Veränderungen in der extrazellulären Matrix (dem „Klebstoff“ zwischen Zellen), den Interaktionen mit den Gliazellen und dem Immunsystem, bis hin zu Lernstudien mit Menschen unterschiedlichen Alters. „Wir haben mehrere Signalwege in den Fokus genommen, die wir genauer studieren wollen“, sagt die GRK-Sprecherin. Dazu gehört der sogenannte Insulin-Rezeptor-Pathway, der Hinweise darauf liefern könnte, warum Menschen mit einem langjährigen Diabetes mellitus u. a. auch ein deutlich erhöhtes Demenzrisiko haben. Das zeigten Studien mit den Daten von über 145.000 Diabetes-Patienten im Alter von über 60 Jahren, die bei der Krankenkasse AOK versichert sind. Darüber hinaus zeigen aktuelle Untersuchungen, dass entzündungshemmende Antidiabetika eine vor Demenz schützende Wirkung haben. Die Analysen der molekularen Mechanismen könnten in Zukunft vielleicht zu gezielt wirkenden Therapien führen, hoffen die Forscher des GRK wie beispielsweise Dr. Michael Kreutz vom LIN.
Moderne Analytik auf allen Ebenen der Forschung
Den jungen Forschenden stehen an der Magdeburger Universität und den außeruniversitären Forschungseinrichtungen gebündelt in der Forschungsstruktur des CBBS die modernsten technischen Instrumentarien zur Verfügung von hochauflösender Mikroskopie und Optogenetik über Proteinanalytik (Proteomics) bis hin zu MRT-Imagingtechniken, transgenen Tiermodellen und verschiedensten Kultivierungsmethoden, die auch die im Altern sich verändernde mechanische Elastizität von Zellen nachstellen können. „Zudem können die verhaltensbiologischen Konsequenzen des Alterungsprozesses unmittelbar nachverfolgt und analysiert werden“, so der Ko-Sprecher Professor Oliver Stork vom Institut für Biologie. „Das macht es uns möglich, die Lern- und Alterungsprozesse im Gehirn auf mehreren Ebenen vom Molekül über die Zelle bis hin zum Nervensystem und dem Verhalten in Nagern und im Menschen - zu untersuchen“, unterstreicht Professorin Dieterich. „Dies spiegelt sich auch im vielfältigen, individuellen und zukunftsorientierten Ausbildungskonzept wieder, das unseren Studierenden ein weitläufiges Netzwerk innerhalb und außerhalb der akademischen Forschung bietet und maßgeblich von der OVGU Graduate Academy und dem CBBS-Graduate-Programm unterstützt wird.”
Prof. Dr. Burkhart Schraven, Prodekan für Forschung der Medizinischen Fakultät: „Von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gleich zwei Anträge für Graduiertenkollegs auf einmal bewilligt zu bekommen, ist schon außergewöhnlich. Darauf können wir sehr stolz sein.“
Vorsicht, falsch verbunden: Fehlgeleitete Zellsignale
„Falsch verbunden“ heißt es, wenn man zufällig am Telefonapparat oder am Handy die falsche Nummer gewählt hat. Normalerweise legt man dann den Hörer auf und wiederholt den Wahlvorgang hoffentlich mit der richtigen Nummer. Hat man jedoch die falsche Nummer oder die Nummer hat sich geändert, hat man den Anschluss verloren das Problem lässt sich ohne Weiteres nicht mehr lösen.
Die Kommunikation zwischen Zellen im menschlichen Körper erfolgt so ähnlich. Manchmal lösen falsche Verbindungsnummern eine ganze Kette von nachfolgenden Reaktionen aus, die katastrophal enden können. Wie es dazu kommen kann und an welchen Stellen des „Wahlprozesses“ die fehlerhafte Entwicklung noch aufgehalten werden kann, untersuchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Graduiertenkolleg „Maladaptive Prozesse an physiologischen Grenzflächen bei chronischen Erkrankungen“. „Lässt sich das Problem an dieser Stelle lösen, können wir die Krankheitsprozesse aufhalten oder korrigieren“, so die Sprecher Prof. Dr. Berend Isermann, Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Pathobiochemie, und Prof. Dr. Michael Naumann, Direktor des Instituts für Experimentelle Innere Medizin. Nicht weniger erstaunlich als die Lernleistungen des Nervensystems sind die Selbstheilungskräfte des menschlichen Körpers. Das ist auch überlebenswichtig, denn jeder mehrzellige Organismus ist pausenlos zahlreichen potenziell schädlichen chemischen Substanzen, Strahlen und Mikroben ausgesetzt. Aus diesem Grund laufen im Körper beständig molekulare Reparatur- und Umbauvorgänge an den Zellen, Geweben und Organen ab. Dabei werden diverse genetische Programme zur Bildung von Molekülen gestartet und diese danach noch mehrfach modifiziert. Einige molekulare Umbauten erfolgen in Bruchteilen von Sekunden und jede Form eines Moleküls hat Einfluss auf dessen Eigenschaften und Wirkweise. Passt es in der Form zu anderen Molekülen wie ein Schlüssel zum Schloss, werden Ketten von Ereignissen in Gang gesetzt, die im Normalfall den komplexen, mehrzelligen Organismus gesund erhalten. Doch manchmal geraten die Abläufe außer Kontrolle. Dann führt eine ungünstige Verkettung von Signalwegen zur Entstehung chronischer Krankheiten, mitunter auch Krebs.
Prof. Dr. Berend Isermann (Foto: Harald Krieg / Uni Magdeburg)
„Sachsen-Anhalt ist ein Land, das zukünftig von der Alterung der Bevölkerung besonders betroffen sein wird. Deshalb sollten wir auch vorangehen bei der Suche nach Wegen, wie wir die Gesundheit der älteren Menschen stärken können. Zugleich bilden wir junge Wissenschaftler als Generalisten mit breiten und exzellenten Karrierechancen aus“, erklärt Prof. Dr. Daniela Dieterich.
„Das Graduiertenkolleg wird junge Wissenschaftler in einem hochrelevanten Thema unter Verwendung von State-of-the-art-Techniken ausbilden und ihnen eine breit angelegte Basis für die berufliche Karriere bieten“, sagt Prof. Dr. Michael Naumann.
„Wir wollen neue Modelle entwickeln, die es uns ermöglichen, Alterungsprozesse des Gehirns auf allen Funktionsebenen vom Gen bis zum Verhalten zu verstehen“, sagt Prof. Dr. Oliver Stork.
Der Anfang des Übels: Fehler im Entzündungsprozess
„Maladaptive Prozesse beginnen oftmals mit einem fehlgesteuerten Entzündungsprozess“, so Professor Berend Isermann. Besonders empfindlich reagieren die Zellen, die im direkten Kontakt mit der Umwelt stehen. Das gilt für die Epithel-Zellen der Haut, der Verdauungsorgane und der Lungenbläschen ebenso wie für die Endothel-Zellen, die Blutgefäße auskleiden. Werden sie geschädigt, lockt das Abwehrzellen des Immunsystems an, die eine sich selbst begrenzende Entzündung auslösen. Fehlt das Stopp-Signal, chronifiziert sich die Entzündung der Mensch wird chronisch, also dauerhaft, krank. Je nach den betroffenen Organen kann das zu unterschiedlichen Krankheitsbildern führen beispielsweise Nierenversagen, Herzschwäche, und chronisch entzündlichen Darmerkrankungen. Im Rahmen des GRK werden die Forschenden sich u.a. mit solchen fehlgeleiteten Prozessen an den sogenannten Endothel-Zellen beschäftigen. Das Endothel reguliert unter anderem die Gefäßweite und den Stoffaustausch. Die Endothelfunktionen sind eingeschränkt, wenn chronische Entzündungen und Arteriosklerose auftreten. In der Folge kann das zu Sauerstoffmangel und schweren Schäden an den Organen führen insbesondere an Gehirn, Herz und Nieren. Eine unrühmliche Rolle dabei kann der sogenannte Transkriptionsfaktor HIF spielen. Sogar wenn die Blutversorgung nach einem Infarkt wiederhergestellt wird, begünstigt HIF ein weiteres Zellsterben. Warum geht die Natur diesen fatalen Weg? Wie kann dieser Prozess aufgehalten werden? Von der Beantwortung solcher Fragen erhoffen sich die Forschenden neue Therapieansätze. Gleiches gilt für andere GRK-Teilprojekte, die sich u.a. mit dem Untergang von kleinsten Nierenkörperchen (Glomerolen) im fortgeschrittenen Stadium von Diabetes mellitus sowie chronisch-entzündlichen Magen-Darm-Erkrankungen befassen. Auch die Einflüsse von Parasiten, wie das Magenbakterium Heliobacter pylori, und einer gestörten Darmflora auf Krankheitsprozesse werden untersucht. „Mit systematischen Ansätzen planen wir Untersuchungen zur Bedeutung von Modifikationen der Barrierefunktion, der Proteostase, sowie molekularer Netzwerke an endothelialen und epithelialen Grenzflächen“, so GRK-Sprecher Isermann. Von den Ergebnissen der Forschung erhoffen sich die Wissenschaftler Ansätze für neue Therapien gegen fehlgeleitete Heilungsprozesse.
Von der Mikrofluid- und der Organ-on-a-chip-Technologie
Auch den Forschenden im GRK „Maladaptive Prozesse an physiologischen Grenzflächen bei chronischen Erkrankungen“ steht ein hochmodernes Instrumentarium zur Verfügung. „Das Center of Dynamic Systems (CDS) der Magdeburger Universität bietet mit Organ-on-a-chip-Technologien und der Mikrofluidtechnik beste Expertise“, erklärt Professor Naumann, Sprecher des CDS. Den Studierenden stehen im Rahmen des GRKs unter anderem modernste zellbiologische Methoden und Technologien, wie hochauflösendes 3D-Imaging, Zwei-Photonen-Mikroskopie, Massenspektrometrie, transgene Tiermodelle und menschliche Organkulturen sowie Mikrofluidik zur Verfügung. Unterstützend wirkt die enge Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Werkstoff- und Strahltechnik (IWS) in Dresden.
„Mit unserem Graduiertenkolleg stärken wir sowohl die Grundlagenforschung als auch die lokale Ausbildung von forschenden Ärztinnen und Ärzten“, sagt Prof. Dr. Berend Isermann.