Sein Herz pocht unerträglich kraftvoll im Brustkorb. Auf seinen Handflächen und der Stirn bilden sich feine kalte Schweißtropfen. Seine Kehle ist kratzig trocken und schnürt sich immer mehr zu. Und als er seinen Vortrag beginnen möchte, verlässt kein einziges Wort seinen Mund. So oder so ähnlich fühlt sich jemand, der panische Angst davor hat, einen Vortrag zu halten.
"Du musst dich deiner Angst stellen“, heißt es dann umgangssprachlich oft. Aus psychologischer Sicht ist da tatsächlich etwas dran. Denn in der kognitiven Verhaltenstherapie werden Patienten in sogenannten In-vivo-Expositionen immer wieder mit Umständen konfrontiert, die bei ihnen Ängste auslösen. Gemeinsam arbeiten Therapeut und Patient dann daran, negative Gedanken und Verhaltensweisen in diesen Momenten zu verändern. Immer und immer wieder. Bis der Patient merkt, dass die Angst unbegründet ist und sie so überwinden kann. Dieser Therapieansatz ist bei einer Vielzahl von Störungsbildern deutlich effektiver als in einer Therapie "nur“ darüber zu reden oder sich bestimmte Situationen nur vorzustellen, in einer sogenannten In-sensu-Exposition. In der Realität ist es aber oft schwer, In-vivo-Expositionen für jeden Patienten zu ermöglichen.
Warum die Situationen also nicht virtuell erzeugen?!
Das jedenfalls dachten sich Jens Klaubert, Philipp Stepnicka und Dr. Adam Streck als sie 2017 auf die Idee gekommen sind, das Potenzial von Virtual Reality (VR) für den Bereich der sozialen Angststörungen zu nutzen. Entstanden ist das Projekt in der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Thomas Wolbers, der am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) im Bereich der Kognition forscht und bereits seit über 20 Jahren dazu auch Virtual Reality nutzt. Aus der anfänglichen Idee ist das Start-up neomento erwachsen, dessen Therapiesoftware reale In-vivo-Expositionen durch virtuelle ersetzt - und zwar in VR.
Dr. Adam Streck, Philipp Stepnicka und Jens Klaubert von neomento (v.l.n.r.). (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Was im Entertainment-Bereich bereits beeindruckend gut funktioniert – nämlich den Nutzer in eine andere Welt zu ziehen – möchten die drei Wahlberliner nun für die Therapie perfektionieren: „Wir wollen durch unsere Software soziale Kontexte im Behandlungszimmer schaffen – das geht mit Virtual Reality deutlich einfacher und ist zudem besser zu kontrollieren“, erklärt Psychologe Philipp Stepnicka. „Einige Therapeuten sind anfangs zwar skeptisch, aber wenn sie es selber ausprobiert haben, sind sie von der Einfachheit, der Anwenderfreundlichkeit, aber vor allem den erzeugten Emotionen und Erfahrungen der VR-Software begeistert.“ Darüber hinaus zeigen Studien bereits, dass diese Form der Therapie genauso gut funktioniert wie das Nachstellen einer realen Situation. Grund dafür sei vor allem, dass Menschen mit Angststörungen sehr stark auf Veränderungen ihrer Umwelt reagieren und es dadurch relativ leicht und unmittelbar dazu kommt, dass sie in diese Situationen vollkommen eintauchen und in ihre üblichen Reaktionsmuster kippen. Ein weiterer Vorteil ist, dass sich in diesem Zusammenhang noch zusätzliche Parameter, wie die Blicke des Patienten, Herzrate oder die Produktion von Schweiß messen und analysieren lassen.
Wussten Sie dass, ...
- 60 Millionen Menschen in Europa und 12 Millionen Menschen in Deutschland unter Angststörungen leiden?
- Nach Einschätzung von Experten wird bei etwa 50 Prozent der Patienten die Angststörung nicht erkannt und deshalb nicht richtig behandelt.
- Häufig entwickelt sich dadurch eine weitere psychische Störung. Bei der generalisierten Angst entwickeln rund 71 Prozent eine Depression, 48 Prozent somatoforme Störungen und 9 Prozent eine Alkoholabhängigkeit.
- Die Ablehnungsrate einer In-vivo-Exposition (27 Prozent) fällt häufig höher aus, als die einer In-virtuo-Exposition (3 Prozent).
- 90,4 Prozent der Patienten, welche sich für eine In-virtuo-Exposition entscheiden, geben an, dass sie zu ängstlich sind, um sich der realen Situation zu stellen.
Ohne Finanzierung und Feedback geht nichts
Wie bei jedem Start-up stand für das Team neben der Entwicklung des Produktes natürlich auch die Frage der Finanzierung im Mittelpunkt. Mit Fördermitteln der EU konnten sie das nötige Equipment anschaffen sowie das Büro und Projektteam bezahlen. „Vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie haben wir zudem eine EXIST-Forschungstransfer-Förderung erhalten, mit der forschungsbasierte Gründungsvorhaben unterstützt werden. Damit konnten wir unser Team vergrößern und die nächsten Monate der Forschung und Entwicklung absichern“, erinnert sich Jens Klaubert, der im Master Internationales Management an der Uni Magdeburg studiert hat. Der administrative Aufwand, der mit öffentlichen Fördergeldern verbunden ist, ist tatsächlich sehr hoch; was schade ist, da ja jeder seine Energie lieber in das Projekt stecken möchte.“ Den Zeitfaktor unterschätze man enorm.
Neben einem realistischen Zeitmanagement sei ehrliches Feedback unverzichtbar für ein junges Unternehmen – und zwar von unabhängigen Personen, die nicht ihren eigenen Vorteil wittern. „Start-ups sollten auch schon sehr früh mit potenziellen Kunden in Kontakt treten. Es geht darum, herauszufinden, wie belastbar die Idee in der Praxis ist und was verbessert werden kann“, rät Philipp Stepnicka. Die Meinung nehmen die neomento-Gründer immer ernst, da sie selber einen hohen Anspruch an ihr Produkt haben. Dem Informatiker Dr. Adam Streck ist vor allem die Qualität der Software besonders wichtig: „Gerade soziale Ängste beeinflussen den Leidenden enorm, da er alltägliche Dinge, wie studieren oder arbeiten, meist nicht mehr ausführen kann. Da möchte ich alles so realistisch wie möglich entwickeln, um die besten Effekte in der Therapie erzielen zu können.“
Weitere Anwendungsbereiche warten bereits darauf, ins Produktportfolio aufgenommen zu werden. In einem Projekt mit der Charité Berlin arbeiten sie daran, Suchtstörungen mit Hilfe von Virtual Reality behandeln zu können. Auch auf andere Ängste, wie Platz- oder Höhenangst, sei die Software von neomento übertragbar - möglicherweise sogar als mobile Anwendung bei den Patienten zu Hause. Und dann wartet auch noch der internationale Markt: „Vor allem in den USA sehen wir gute Entwicklungschancen“, so Jens Klaubert.
"Demnächst führen wir noch eine größere klinische Studie durch. Doch bis dahin wollen wir unser eigenes Konzept verbessern und perfektionieren, damit es letztendlich wirklich angewendet werden und möglichst vielen Menschen helfen kann.“