Volle Städte, Baustellen, Staus auf den Autobahnen, ausgefallene Züge: Wen nervt das nicht? Der Trend geht zum „switchen“. PKW, Bahn, Bus, Fahrrad – gewählt wird, was im Moment schnell, effektiv und umweltschonend ist. Die „vernetzte Mobilität von morgen“, sie hat längst begonnen, meint Andreas Müller, Managing Director vom „Galileo-Testfeld“ an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
In Fahrt kommt sie durch den digitalen Wandel und durch die neuen, schnelleren Möglichkeiten, Daten fließen zu lassen. Im Entwicklungslabor und dem „Testfeld für Ortung, Navigation und Kommunikation in Verkehr und Logistik“ der Uni haben Forscher und Unternehmer die mobile Zukunft im Blick. Ausgestattet sind sie bald mit der neuen 5G-Technologie, mit der Daten in Echtzeit transportiert werden können.
Wenn Andreas Müller beschreiben soll, was er macht, zückt er gern sein Smartphone. Er zeigt dann Videos von kleinen Maschinen, die sich auf einer Fläche fahrerlos bewegen oder von Autobahnen, wo der Verkehr fließt, von animierten Grafiken, die verdeutlichen, wie der Verkehr gesteuert werden kann. Der Managing Director des Galileo-Testfeldes Sachsen-Anhalt“ in der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg transportiert sein Wissen am liebsten mit Beispielen. Was für viele Menschen noch Zukunftsmusik ist, bestimmt den Alltag im Testfeld. „Einfach gesagt“, erläutert er, beschäftigen wir uns mit Mobilitätskonzepten, die unser Leben verbessern sollen.“ Die Mobilität, die Logistik und damit die Alltagsqualität zu optimieren, das treibt ihn schon lange um und an. Mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen und den Blick nach vorn und oben gerichtet.
Forschen heißt, gegen den Strom zu schwimmen
Der Altmärker beschreitet gern neue Wege, war Landvermesser, hat Erfahrungen beim Fraunhofer-Institut für Atmosphärische Umweltforschung und in der Luft- und Raumfahrt gesammelt, war maßgeblich an der Entwicklung von Google Earth in Deutschland beteiligt. Es sei ein Glücksfall für die hiesige Forschung gewesen, sagt er, dass im Jahr 2008 die Landesinitiative „Angewandte Verkehrsforschung – Galileo-Transport“ ins Leben gerufen und damit der Grundstein gelegt worden sei für ein „Entwicklungslabor“, das Innovationen für Verkehr, Mobilität und Logistik befördern und vernetzen sollte. Verknüpft war es von Anfang an mit dem europäischen Satellitennavigationssystem, benannt nach dem Universalgelehrten Galileo Galilei.
Vorstellung der Forschung zu Echtzeitanwendungen im Entwicklungslabor des Galileo-Testfeldes im Beisein des Staatssekretärs Thomas Wünsch (2.v.li.) und Prorektors Prof. Dr. Helmut Weiß (li.). (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Damals vor zehn Jahren umkreisten erst zwei Satelliten die Erde, Testfelder waren ein Novum, nicht wenige Menschen hätten das Vorhaben in Magdeburg belächelt, erinnert sich Andreas Müller und sagt: „Manchmal muss man eben wie Galileo in seiner Zeit modern denken.“ Zu forschen heiße eben oft, sich auch die Freiheit nehmen zu können, gegen den Strom zu denken. Deutschland war damals ein Vorreiter bei der Errichtung von Testfeldern. „Bei uns in Magdeburg wurden die Potenziale für die Errichtung ausgelotet, wir hatten die Chance, es in unseren Studienort zu integrieren und damit einen Mehrwert zu schaffen“, erinnert sich der 47-Jährige. Dass solche Innovationsbereitschaft nicht selbstverständlich ist, hat der Forscher in vielen Jahren häufig gemerkt. „Wir konnten bei unserer Arbeit immer auf die Unterstützung der Landesregierung, der Ministerien, der Universität und der Stadt Magdeburg bauen“, sagt er.
Heute entwickeln und testen im Galileo-Testfeld Partner aus Wirtschaft und Forschung unter anderem satellitengestützte Anwendungen für den Verkehr und die Logistik – drinnen wie draußen. Das Galileo-Testfeld an der Magdeburger Uni zählt zu den modernsten Integrationsplattformen für die anwendungsorientierte Mobilitäts- und Logistikforschung in Deutschland. Es besteht aus einem Entwicklungslabor auf dem Uni-Campus, dem Testfeld im Wissenschaftshafen sowie einer Logistikplattform im Hansehafen, wo satellitengestützte Ortungstechnologien unter realen Bedingungen getestet werden, um Umschlagprozesse an Logistikhubs effizienter zu gestalten.
Im Mittelpunkt stehen Technologien, die exakte Koordinierungen benötigen. Forschungsprojekte und Testanfragen kommen aus wissenschaftlichen Einrichtungen, von Partnern und Unternehmen, viele gehören zu einem „Innovationstool“ oder zu nationalen und internationalen Netzwerken, die von den Forschern gepflegt werden. „Allein zu arbeiten, bringt gar nichts“, meint Müller. „Wir müssen an einem Strang ziehen, und wir können an unserem Standort viele Ansätze zielgenau und produktneutral prüfen.“
Für die Erarbeitung von Lösungen in Verkehr und Logistik gibt es im „Galileo-Testfeld“ Mess- und Simulationseinrichtungen. Wissenschaftliche Tests werden im Laborbetrieb und in Umgebungen durchgeführt, die realitätsnah aufgebaut sind. Beteiligt sind neben der Universität das Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF Magdeburg, das Institut für Automation und Kommunikation (ifak) Magdeburg, die Hallesche Verkehrs-AG, die Magdeburger Hafen GmbH sowie regionale kleine und mittelständische Unternehmen.
„Die Bedingungen gerade hier im Wissenschaftshafen sind paradiesisch. Wir fungieren wie ein Technikum“, erzählt der Leiter des Testfeldes. Wer eintritt, erlebt die Atmosphäre eines Experimentierraumes. Vor der Tür, im Raum, überall ist etwas in Bewegung Maschinen zuckeln umher, kleine Fahrzeuge bewegen sich. „Unsere Testumgebung ist sehr industrienah ausgestattet“, sagt Andreas Müller und blickt dabei auf ein Kransystem. Im „Reich“ des Testfeldes werden Demonstratoren aufgebaut, Prototypen eingesetzt, die klären sollen, ob Ideen überhaupt funktionieren.
Auch in den Köpfen ist Bewegung. Die Basis für die Arbeit hier sei neu und weiter zu denken. Andreas Müller meint: „Wir sind ein Querdenker-Club, der Vernetzungen schafft.“ Hier arbeiten und forschen ein Team, Start-ups und Gäste an der Mobilität von morgen. Und die macht nicht im Wissenschaftshafen halt. „Wir sind viel unterwegs“, sagt Andreas Müller. Er nennt es „auf der Spur der intelligenten Mobilität sein“. Gezielt, schnell, unkompliziert und umweltbewusst: Das sind die Vokabeln, mit denen der Forscher die künftigen Mobilitätsansprüche und die damit verbundene Komplexität beschreibt.
Die Notrufsäule im Fokus des ANIKA-Projektes (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Die Zukunft beginnt Ende 2020
Das „Galileo-Testfeld“ hat darum auch eine Plattform für den öffentlichen Personennahverkehr im Portfolio. Dafür macht sich das Team oft auf die Spur – führt beispielsweise bei der HAVAG Tests im laufenden Betrieb in Echtzeit durch. Die Magdeburger Forscher statteten Bus und Bahn mit einem Ortungssystem aus und veränderten den Bordrechner so, dass Signale der Fahrzeuge und die Spurtreue getestet werden konnten. Das Ergebnis: Die Fahrzeuge konnten genau geortet und präzise Fahrgastinformationen gegeben werden. „Wer schnell weiß, ob und wann die Bahn kommt, kann bei Bedarf umsteigen“, sagt Müller. „Das wiederum hilft dem Nutzer, seine eigene Mobilitätskette aufzubauen und das ist das Ziel.“
Um Vernetzungen für die Mobilität bald noch besser testen zu können, wird bis Ende 2020 ein 5G-Testfeld beginnend im Wissenschaftshafen aufgebaut. Das Wissenschaftsministerium Sachsen-Anhalt unterstützt diesen Aufbau des ultraschnellen Mobilfunknetzes. „Auf längere Sicht wird der 5G-Korridor bis zum Uni-Campus reichen“, sagt Andreas Müller, „5G leitet in Sachen Geschwindigkeit und Reaktionszeit ein neues Zeitalter ein. Mit dem 5G-Netz wird Kommunikation in Echtzeit stattfinden.“ Auf dieser 5G-Basis entwickelt sich das Galileo-Testfeld künftig weiter zum Digitalen Anwendungszentrum für Mobilität, Logistik und Industrie.
Aktuelle und künftige Forschungsvorhaben der Uni sollen davon profitieren. Eins davon ist das Mobilitätsprojekt „Anika“, bei dem es um die „intelligente Notrufsäule“ geht. Die rund 16.000 Notrufsäulen an den Autobahnen sollen mit Funkmodulen aufgerüstet werden, sodass sie Autofahrer in Echtzeit über Gefahren und Hindernisse informieren können. Riesige Datenmengen müssen dafür in Echtzeit übertragen, evaluiert und ausgewertet werden. Mit der neuen „Vehicle to Infrastructure“-Technologie verbinden sich Fahrzeug und Säulen. Rasend schnell – schneller als „Google Maps“ – können so Daten zur Verkehrslage erfasst, ausgewertet und weitergeleitet werden. Autofahrer werden vor Falschfahrern, Unfällen oder Hindernissen gewarnt. Eine Idee, die auch dahintersteckt, erklärt Andreas Müller: „Wir setzen wie immer auf Nachhaltigkeit. Bei Anika nutzen wir die Infrastruktur, neben den vorhandenen Säulen eben auch Datenkabel in Ortschaften und Gewerbegebieten. Wir möchten keine zusätzlichen Kabel verlegen, sondern das System ergänzen.“ Eine eigene Versuchsstrecke im nationalen „Digitalen Testfeld Autobahn“ entlang der A9 bei Nürnberg wird gerade vorbereitet.
Wie das dann in der Realität aussehen kann, ist auf einem Simulationsvideo auf Müllers Handy zu sehen. Als er es abspielt, sagt er: „Solche Projekte machen deutlich, wohin es geht, wenn wir uns fragen, wie wir morgen leben wollen.“ Für ihn und viele seiner Mit-Forscher und Partner im Galileo-Testfeld Sachsen-Anhalt lautet die Antwort: mit einer zielgenauen Mobilität.
Das Mobilitätskonzept der Zukunft besteht für sie darin, einen gesunden Mix von Verkehrsmitteln zu erhalten. „Die größte Herausforderung ist, die individuelle, gewohnte Mobilität zu verändern und aus einem Ich- ein Wir-Konzept zu machen“, sagt Andreas Müller. Immer wichtiger werde zudem die Sicherheit im Verkehr und auch die Umwelt im Blick zu behalten. Nicht umsonst verbindet sich der Managing Director auf zahlreichen Ebenen, wo Mobilität eine Rolle spielt, arbeitet mit in vielen Gremien, ist Vorstandsmitglied im Mobilitätsnetzwerk „ITS mobility“ oder Mitglied des Umweltbeirates Sachsen-Anhalt für Mobilität und Klimaschutz.
Die Magdeburger Forscher und die Uni locken mit ihren Ambitionen Botschafter aus fernen Ländern genauso wie Kollegen, Vertreter des Bundesverkehrsministeriums und das Who is Who der deutschen Autoindustrie auf den Campus und ins „Galileo-Testfeld“. Das könne gern so weitergehen, meint Andreas Müller. Für die Zukunft zu arbeiten, bedeute für ihn, sich die Neugier zu bewahren, nicht alles hinzunehmen, nicht aufzugeben – auch, wenn sich Hürden aufbauen. „Wir müssen uns weiter trauen, neue Technologien einzusetzen und sie noch mehr miteinander verknüpfen.“ Mit dem „Galileo-Testfeld Sachsen-Anhalt“ und der nahen Zukunft eines 5G-Campus wollen die Magdeburger weiter Vollgas geben und die sinnbildliche Überholspur nehmen. Anders ginge es nicht, sagt Andreas Müller: „Uns treiben die Neugier und ein großer Wissensdrang an, beides können wir hier in dieser Umgebung ausleben. Das ist spannend, kein Tag gleicht dem anderen.“
Wussten Sie schon, dass ...
- ... das Galileo-Satellitensystem das einzige zivile Satellitensystem ist, welches unter demokratischer Kontrolle steht? GPS und das russische GLONASS-Satellitensystem sind Erbstücke des Kalten Krieges und bis heute in militärischer Hand. Das chinesische System BEIDOU steht unter der Schirmherrschaft der kommunistischen Partei.
- ... erste Telemedizin-Operationen in Echtzeit via 5G möglich sind? Auf der Mobilfunkmesse „Mobile World Congress“ (MWC) in Barcelona wurde erstmals in Echtzeit eine Live-OP durchgeführt, die ein Arzt über den superschnellen Mobilfunkstandard 5G anleitete. 5G eröffnet neue Möglichkeiten in der Telemedizin. Das Pilotprojekt „Remote Surgeon“ (Fernchirurg, Fernoperateur) war nach Angaben der 5G-Initiative der Stadt Barcelona und der Generalverwaltung der spanischen Region Katalonien die erste ihrer Art weltweit. Konkret handelte es sich um ein Streaming in Echtzeit zwischen einem Ärzteteam im Krankenhaus und dem Mediziner Dr. Antonio de Lacy, der vom Hauptauditorium des MWC den OP-Verlauf anleitete und kommentierte.
- ... auch im Smartphone-Zeitalter immer noch die Notrufsäulen an der Autobahn genutzt werden? 2018 gingen nach Angaben auf dem Verbraucherportal des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft am Tag rund 144 Anrufe von den orangefarbenen Säulen ein. Über den Anruf an der Notrufsäule ist der Hilferufende exakt verortet.