Obwohl fast 60 Prozent der Menschen im Norden Sachsen-Anhalts sich wünschen, dass mehr für den Erhalt des Plattdeutschen getan wird, sinkt seit 1995 die Zahl derer, die plattdeutsch sprechen können. In der Börde, zum Beispiel, von 43 auf 26 Prozent. Das ist ein Forschungsbefund der Arbeitsstelle Niederdeutsch an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Seit 30 Jahren beraten hier die Germanistinnen Dr. Ursula Föllner und Dr. Saskia Luther die Landesregierung Sachsen-Anhalts zum Thema plattdeutsche Regionalsprache. Warum ihre Herzen so am Plattdeutschen hängen und was diese Sprache für die Region bedeutet, darüber hat Katharina Vorwerk mit den beiden Sprachbegeisterten Frauen gesprochen.
Dr. Saskia Luther (li.) und Dr. Ursula Föllner (re.) von der Arbeitsstelle Niederdeutsch an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Frau Dr. Föllner, Frau Dr. Luther, was ist für Sie das Faszinierende am Plattdütsch?
Saskia Luther: Plattdeutsch ist die Sprache, die im Norden unseres Bundeslandes fest verwurzelt ist und diese Wurzeln sollten – im buchstäblichen und übertragenen Sinne - erhalten bleiben. Und natürlich ist es auch der „Reiz des Anderen“, der eine Rolle spielt. Dass es neben der Standardsprache noch andere Ausdrucksmöglickeiten gibt, ist doch schön!
Wann war die Blütezeit des Plattdeutschen in unserer Region und wie viele Menschen sprechen es überhaupt heute noch?
Ursula Föllner: Natürlich ist die Hochzeit schon etwas her, denken wir nur an das erste Rechtsbuch in deutscher - vorwiegend niederdeutscher - Sprache: den „Sachsenspiegel“ des Eike von Repgow aus dem 13. Jahrhundert oder die „Sächsische Weltchronik“ ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert. Und die Hansesprache dürfen wir nicht vergessen, die auch in den Hansestädten unseres Bundeslandes, z. B. Stendal, Salzwedel oder Magdeburg, alltäglich gesprochen und geschrieben wurde.
Ist das Niederdeutsche ein Dialekt oder eine Sprache, also besitzt es eigenes Vokabular und eine eigene Grammatik?
Saskia Luther: Das ist in der Wissenschaft eine vieldiskutierte Frage, aber für mich ist sie klar zu beantworten: Niederdeutsch ist eine Sprache, genauer eine Regionalsprache, mit eigener Lexik, Lautung und Grammatik.
Ursula Föllner: Sie hat sich parallel zum Hochdeutschen entwickelt und hätte ebenso zum Standard werden können. Dann würden wir heute alle plattdeutsch sprechen und Hochdeutsch müsste gerettet werden. Aber wirtschaftliche und politische Ausstrahlungen aus dem hochdeutschen Raum haben - neben anderen Faktoren wie die Schriftzeugnissen der Reformation in ostmitteldeutscher Sprache und die eher südlichen Konzentration der Buchdruckereien - zu einer Standardsprache hochdeutscher Prägung geführt.
Wo wird noch am meisten Platt gesprochen, wo am wenigsten?
Saskia Luther: Jeder, der an der Ostsee- oder Nordseeküste einmal Urlaub gemacht hat, kommt am Plattdeutschen nicht vorbei. Dort wird viel Platt gesprochen, auch von jungen Leuten. Je weiter man nach Süden fährt und sich damit der sogenannten Benrather Linie nähert, der Sprachgrenze zwischen Nieder- und Hochdeutsch, desto weniger wird es. Aber auch bei uns in der Altmark, der Börde und dem Harz ist das Plattdeutsche durchaus noch lebendig, wenn auch eher bei den Älteren und weniger öffentlich.
Woher rührt Ihre Begeisterung und Ihr Engagement für diese Regionalsprache? Haben Sie es von Ihren Großeltern gelernt?
Saskia Luther: Nein, leider nicht, da wir beide in Magdeburg und nicht im ländlichen Raum aufgewachsen sind. Die Begeisterung kam tatsächlich vor drei Jahrzehnten bei einer Befragung zum Plattdeutschen, durch die wir mit vielen tollen Plattsprecherinnen und -sprechern zusammengekommen sind.
Ursula Föllner: Bei mir wuchs das Interesse tatsächlich schon als Kind, weil wir zuhause oft das plattdeutsche Hörspiel im NDR gehört haben und überhaupt meist der NDR mit seinen plattdeutschen Programmteilen lief. Daran sieht man, wie wichtig die Präsenz dieser Sprache in den Medien sein kann.
Babbel und Duolingo fallen sicher eher weg: Wie lernt man Plattdeutsch?
Saskia Luther: Das wäre mal eine Aufgabe: Babbel und Duolingo für Platt! Ist gar nicht undenkbar, schließlich gibt es auch bereits eine App, um Sorbisch zu lernen.
Ursula Föllner: In Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel ist Platt ein Unterrichtsfach und auch wir haben Lehrmaterial entwickelt, mit dem sich Platt lehren und lernen lässt.
Mundartpflege hat ja immer so ein wenig was von Folklore, ist das alles oder warum halten Sie es für wichtig, Regionalsprachen zu erhalten?
Saskia Luther: Für mich hat es wirklich wenig mit Folklore zu tun, sondern es geht einfach darum, eine Sprache zu erhalten und damit eine Ausdrucksmöglichkeit mehr zu haben! In Europa streben wir Dreisprachigkeit an und eine von diesen drei Sprachen kann durchaus eine Regional- oder Minderheitensprache sein. Die Förderung des Plattdeutschen hat also eher etwas mit Sprachenpolitik zu tun.
Ursula Föllner: Außerdem macht Sprachenlernen klug! Man gewinnt Einsichten in Gedankenwelten, die sonst verschlossen blieben. Übrigens: Man kann Platt auch lernen, weil es einfach Spaß macht. Das sehen wir immer an den Kindern in den Arbeitsgemeinschaften.
Die nachwachsende Sprechergeneration steht bei Ihrem Engagement im Fokus: Wie viele Kinder haben inzwischen an den Plattdeutsch-Schüler-Wettbewerben teilgenommen, wie viele Geschichten sind entstanden?
Ursula Föllner: In 26 Jahren waren das sehr viele Kinder und sehr viele schöne Geschichten, die extra für die Wettbewerbe geschrieben worden sind. Zum 20. Jubiläum haben wir mal eine Statistik gemacht: Es gab bis dahin 10 Ausgaben unserer Vorlesehefte, 283 Geschichte von 69 Autorinnen und Autoren. Kinder aus 151 Schulen haben in diesen Jahren teilgenommen, jedoch gibt es inzwischen viele dieser Schulen leider gar nicht mehr.
Wie reagieren die Menschen, die noch platt sprechen, auf Ihre Bemühungen?
Saskia Luther: Natürlich finden es fast alle gut, wenn man sich von Seiten der Wissenschaft, Sprachpflege und auch von Seiten der Politik um ihre Heimatsprache kümmert.
Ursula Föllner: Als wir in den 1990er Jahren unsere Feldforschung durchgeführt haben, sind sich manche erst bewusstgeworden, über welchen Schatz sie verfügen und, dass sie etwas ganz Besonderes können.
Worum kümmern Sie sich noch in der Arbeitsstelle Niederdeutsch, wie sieht ihr „plattdeutscher“ Arbeitsalltag aus?
Ursula Föllner: Da gibt es Vieles, angefangen von den Lehrveranstaltungen in der Germanistik und dem ganz normalen Universitätsalltag, über Auskünfte zur Namenwelt - wie wöchentlich in der „Volksstimme“ - bis hin zu Vorträgen auf Tagungen oder in Vereinen und zur Gremien- und Lobbyarbeit für das Plattdeutsche oder die Beratung von politischen Entscheidungsträgern.
Soeben wurde vom Innenministerium beschlossen, dass Ortsschilder in Sachsen-Anhalt wieder zweisprachig sein können, analog zur Lausitz. Was würden Sie sich darüber hinaus wünschen, die Pflege des Plattdeutschen betreffend?
Saskia Luther: Wir können uns da vieles vorstellen, aber in erster Linie betreffen die Wünsche den Bildungsbereich, da ohne eine Sprachbegegnung und im besten Fall einen Spracherwerb im Kindesalter es wohl schwierig wird… Also ein Unterrichtsfach Niederdeutsch im ländlichen Raum - das wäre ein Traum!
Wird es weitere Forschungen zur niederdeutschen Sprache unserer Region geben?
Saskia Luther: Ja, es geht weiter. Im Oktober 2020 ist das neue Forschungsprojekt NiSA „Niederdeutsch in Sachsen-Anhalt“ des Fachbereichs Germanistische Linguistik an den Start gegangen, das unter anderem die aktuellen Einstellungen zum Niederdeutschen in der Sprechergruppe und in der Mehrheitsbevölkerung in ausgewählten Orten der Altmark, Börde und des Harzes untersuchen wird.
Ursula Föllner: Wir wollen dann die Ergebnisse auch mit unseren Untersuchungen aus den 1990er Jahren vergleichen. Auch kulturhistorische Aspekte werden einbezogen.
Haben Sie ein Lieblingswort oder eine Lieblingsredewendung?
Saskia Luther: Im Augenblick: „Wat mutt, dat mutt!“
Ursula Föllner: „Da mött wei dorch!“
Könnten Sie unseren Leserinnen und Lesern noch eine „platten“ Wunsch vor den Festtagen und dem Neuen Jahr mitgeben?
Saskia Luther: Fröhliche Wienachten!
Ursula Föllner: Un dat wei wedder analog mitnanner schnacken un uns drepen künnt.
Frau Dr. Föllner, Frau Dr. Luther, vielen Dank für das Gespräch!