DE
Die Uni Magdeburg entwickelt z.B. in dem Projekt AuRa ein autonomes Lastenrad, das per App gerufen werden kann (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
08.09.2021 aus 
Forschung + Transfer
Strukturschwäche mit Forschungsstärke

Wer Visionen habe, solle bekanntermaßen zum Arzt gehen. Oder an die Universität Magdeburg. Denn hier wird an einem Vorhaben gearbeitet, bei dem es um nicht weniger als darum geht, die Mobilität im Land Sachsen-Anhalt neu zu denken. Mit dem Intelligenten Mobilitätsraum sollen modellhaft am Beispiel der Region Magdeburg existierende Personentransport- und Logistiknetze intelligent und ressourcenschonend miteinander verzahnt werden – infrastrukturell, ökonomisch, datentechnisch. Dann interagieren autonome Shuttlebusse mit dem ÖPNV, Lagerlogistik mit umweltfreundlichem Individualverkehr auf Lastenrädern. Unterschiedlichste Mobilitätsbedürfnisse von Familien oder Firmenbesitzern, von Dorfbewohnern und Städtern wachsen effizient und nachhaltig zusammen, um den Herausforderungen strukturschwacher Regionen zu begegnen. Wohnen, Leben und Mobilität sind künftig viele Teile eines Systems. Ein Vorhaben, das nur im Bündnis mit engagierten Partnern aus Gesellschaft und Wirtschaft zu bewältigen ist, die mit ihren Ideen und Bedürfnissen die Forschung vorantreiben.

Der Ausgangspunkt: Rund 80 Prozent der Bevölkerung Sachsen-Anhalts leben im ländlichen Raum. Oft in unmittelbarer Nähe zu einer Großstadt wie Magdeburg, der – im Gegensatz zu vielen anderen Zentren bundesweit – ein Ballungsgebiet, also infrastrukturell gut erschlossene Ränder fehlen. Das verlangt von den Menschen auf dem Land ein hohes Maß an individueller Mobilität. Die Folge: Die mobile, arbeitsfähige Bevölkerung zieht es zurück in die Stadt. Für die immer weniger werdenden Zurückbleibenden rechnet sich wiederum immer weniger die Investition in eine verlässliche Verkehrs- oder Dateninfrastruktur. Also zieht es noch mehr Menschen und Unternehmen fort und ganze Regionen veröden. Ein Teufelskreis, der durchbrochen werden muss.

Wie Wissenschaftler der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg durch interdisziplinäre Forschung und Kooperationen die Herausforderungen dieses Strukturwandels gestalten, höchst individuelle Mobilitätsbedürfnisse und ein auf Effizienz getrimmtes Logistiknetz ineinanderfügen wollen, darüber hat Katharina Vorwerk mit den Akteuren gesprochen.

 

Vor welchen konkreten Problemen in puncto Mobilität stehen wir in Sachsen-Anhalt?

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt

Sachsen-Anhalt liegt an mehreren europäischen Hauptachsen des Güter- und Personenverkehrs auf der Straße, der Schiene und dem Wasser. Den müssen wir im ersten Schritt intelligent und umweltverträglich durch das Land leiten. Aber der zweite, weitaus wichtigere Schritt wäre, Sachsen-Anhalt von einem Transitland zu einem attraktiven Wirtschaftsstandort und Lebensort zu machen. Güter sollten nicht nur hindurchfahren, sondern hier hergestellt werden.

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Dr.-Ing. Fabian Behrendt, Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung Magdeburg (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

Als „Flächenland“ mit nur zwei Zentren – Halle und Magdeburg – müssen wir unterschiedlichste Verkehrsträger miteinander verzahnen. Aus der Harzregion in die Zentren zu fahren, ist in Teilen eine planerische Herausforderung. Lokale Busverbindungen sind nur unzureichend in die restliche Infrastruktur integriert und durch Apps zur Routenplanung nicht vollständig berücksichtigt. Wenn man eine Verbindung findet, übersteigen die Fahrzeiten mit dem ÖPNV das Vielfache der PKW-Fahrzeit. Das ist den Bürgerinnen und Bürgern schlicht nicht vermittelbar und sollte auch so nicht akzeptiert werden.

Prof. Dr. rer. nat. Michael Scheffler

Hinzu kommen die Ausbreitung und Verdichtung der Städte, die, vollgepfropft mit Kraftfahrzeugen und dafür benötigten Parkplätzen, wertvolle Grün- und Ackerfläche verschlingen. Dieses Problem wird von Unfällen auf den Autobahnen und einer daraus folgenden Extrembelastung des örtlichen Verkehrsnetzes durch Nutzung als Umleitungen überlagert, was wiederum die Schadstoffbelastung steigen lässt. Nicht zu vergessen wäre das marode Radwegenetz.

Sebastian Schmermbeck

Wesentlich ist auch: Der demografische Wandel sorgt dafür, dass wir immer weniger werden. Das macht die Finanzierung bezahlbarer öffentlicher Verkehrsangebote schwieriger. Eine überalterte Gesellschaft tut sich darüber hinaus schwer mit der fortschreitenden Digitalisierung und kann die für sie wichtigen Angebote mitunter nicht nutzen. Auch die Gestaltung des Strukturwandels im Mitteldeutschen Revier und das Schaffen von Perspektiven für die Bevölkerung stellt uns vor enorme Herausforderungen.

 

Wie würden Sie den thematischen Ansatz des Modellprojektes beschreiben, diesen Herausforderungen zu begegnen?

Prof. Dr. rer. nat. Michael Scheffler

Wir fragen grundsätzlich, wie wir durch intelligente Vernetzung der Transportsysteme diese wesentlich effizienter nutzen können, so unnütze Kapazitäten abbauen und damit das Verkehrsaufkommen drastisch reduzieren können, aber gleichzeitig die individuelle Mobilität aufrechterhalten. Klingt kompliziert, ist es auch!

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

Wir wollen passgenaue Lösungen für eine konkrete Region entwerfen, die vor Ort evaluiert werden und anschließend auf andere, ähnlich strukturierte Räume modellhaft übertragen werden können. Dafür wird es erstmals eine detaillierte Analyse der unterschiedlichen Anforderungen und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger verschiedenen Alters und unterschiedlicher Wohnsituationen geben.

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger, Fakultät für Informatik, Institut für Technische und Betriebliche Informationssysteme (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Mobilitätsfragen werden noch zu oft allein technisch beantwortet, mit verbesserten Verkehrsverbindungen oder Informationsapps. Im Intelligenten Mobilitätsraum geht es aber darum, die Mobilitätsanforderungen einer Region zu verstehen und gemein-same Lösungen zu finden, Mobilität quasi ganzheitlich zu denken. Eine ältere Dame, die 20 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt in einer Genossenschaftswohnanlage wohnt, möchte ohne eigenes Fahrzeug einen Arzt aufsuchen. Wir fragen: Ist sie mit diesem Bedürfnis die einzige? Mit einer Zielgruppenanalyse, der Einbeziehung der Wohnungsbaugenossenschaft, der Ärztekammer, dem ÖPNV, Share-ride-Diensten und Organisationen der Nachbarschaftshilfe lassen sich hier ganz andere Lösungen gestalten als das klassische Taxi.

 

Wird die Region um Magdeburg also bald zu einem großen Reallabor?

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

In Teilen hoffen wir das wirklich. Wir können uns vorstellen, um den Uni-Hauptcampus Experimentalräume für autonome Fahrzeuge zu schaffen, die bis zum Wissenschaftshafen und darüber hinaus reichen und einen Warentransport, beispielsweise mit autonomen Lastenrädern, aber auch einen flexiblen Personentransport ermöglichen.

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Das Wort „Labor“ mag vielleicht irreführend sein, es stehen ja nicht an jeder Straßenbahnhaltestelle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und führen Mobilitätsversuche durch. Wir meinen zeitlich und zumeist auch räumlich begrenzte Experimentierräume, in denen neue Technologien oder Geschäftsmodelle erprobt werden können. Es geht also um das gegenseitige Lernen in einer Region, um auf Basis eines gemeinsamen Problemverständnisses wissenschaftlich und sozial robuste Lösungen zu erarbeiten und auszuprobieren.

 

Welche Chancen sehen Sie durch das Forschungsprojekt?

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Es würde für die Region erstmals eine gemeinsame Strategie, ein gemeinsames Nachdenken darüber möglich, wohnen, arbeiten und leben miteinander umweltverträglich, effizient und klimafreundlich zu verzahnen und ländliche Regionen für die Menschen attraktiver und lebensfreundlicher zu gestalten.

Prof. Dr. rer. nat. Michael Scheffler

Ich kenne Beispiele, bei denen fünf von fünf Familienmitgliedern mit je einem Auto in die nächste Großstadt unterwegs sind, weil jeder zu unterschiedlichen Tageszeiten mit seiner Arbeit beginnt und der ÖPNV-Fahrplan den Transport nicht abdeckt. Alle fünf Autos stehen dann acht Stunden auf dem jeweiligen Firmenparkplatz und füttern anschließend wieder die Straßen verstopfende Blechlawine. Nicht zuletzt ein Kraftstoffverbrauch, den wir uns umwelttechnisch schon lange nicht mehr leisten können.

Prof. Dr. rer. nat. Michael Scheffler (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Dr. rer. nat. Michael Scheffler, Fakultät für Maschinenbau, Institut für Werkstoff- und Fügetechnik (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

Ich sehe durch die extrem interdisziplinäre Ausrichtung der beteiligten Wissenschaften die Chance auf besonders kreative Lösungen, ob im Bereich neuer Fahrzeugtechnologien oder bei der Analyse und Planung. Von der Elektrotechnik und dem Maschinenbau, über die Informatik bis hin zur Soziologie und Psychologie reicht die Bandbreite.

Sebastian Schmermbeck

Indem wir voneinander lernen und uns intensiv austauschen haben wir die Möglichkeit, ein für die Region spezifisches, stabiles Mobilitätsnetzwerk zu schaffen. Diese Kooperation ist in dieser Form einmalig und voller Potenziale.

 

Welche Akteure bringen denn ihre unterschiedlichen Perspektiven und Kompetenzen ein?

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Bisher sind neben der Universität das Fraunhofer IFF, mehrere Magdeburger Wohnungsbaugenossenschaften und deren Dachverband, die regiocom GmbH, die Stadt Magdeburg, die Gemeinde Harzgerode und die NASA GmbH beteiligt.

 

Apropos NASA, welche Rolle spielt der Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt in diesem Vorhaben?

Sebastian Schmermbeck

Wir sind Praxispartner in einer besonderen Position: als Brücke zur ÖPNV-Branche insgesamt. Darüber hinaus sehen wir uns auch als Schnittstelle von universitärer Forschung und der Rahmenplanungen des Verkehrsministeriums bezogen auf die Mobilität. Nur durch die Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft können wir eine dauerhafte und spürbare prinzipielle Veränderung und Verbesserung der Mobilität erreichen.

 

Inwiefern ist die Schaffung des Intelligenten Mobilitätsraumes ein Modellprojekt? Lässt sich die Gültigkeit der erworbenen Kenntnisse künftig erweitern?

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

Genau das ist unser Ziel: Modellhafte Lösungen, die später auf ähnlich strukturierte Räume übertragen werden können. Unsere Nachbarregion um Braunschweig steht vor sehr ähnlichen Herausforderungen.

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Magdeburg als ein isoliertes Oberzentrum ohne Ballungsraum, steht nicht allein da. Die damit verbundenen, besonderen Bedürfnisse und Konstellationen sind zum Beispiel auch auf Rostock oder Würzburg, aber auch auf weitere ähnlich strukturierte Regionen in Europa, übertragbar.

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgProf. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth, Fakultät für Elektro- und Informationstechnik, Institut für Informations- und Kommunikationstechnik (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt

Für mich ist der Intelligente Mobilitätsraum ein Modellprojekt in zwei Dimensionen. Zuallererst ist er ein Experimentierraum. Wissenschaft und Innovation leben davon, Lösungen und Prototypen zu entwerfen, zu testen, zu verbessern und manchmal auch zu verwerfen. Wir brauchen diesen Spielraum, um Fortschritte zu erzielen. In der zweiten Dimension streben wir nach Innovationen mit Modellcharakter, die über die Region hinaus wirken. Die Idee ist, vor Ort zu demonstrieren, wie digitale Innovationen Mobilität sicher und nachhaltig machen können, um diese anschließend mit starken Partnern aus der Region breit auszurollen.

 

Ein zentraler Begriff der Mobilitätswende ist die multimodale beziehungsweise intermodale Mobilität: Das autonome Shuttle fährt also die hochbetagte Dame nach Magdeburg zum Arzt und nimmt auf dem Rückweg die Schraubenlieferung für das KMU mit?

Prof. Dr. rer. nat. Michael Scheffler

So in etwa könnte man sich das vorstellen. Die Dame muss allerdings auch wieder zurück, und Richtung Heimat käme dann ein anderes Fahrzeug. Man erkennt schnell die sich daraus ergebende Ressourceneinsparung.

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt

Multimodal meint ja, dass Sie über den Tag verteilt mehrere Verkehrsmittel nutzen. Intermodal wird es dann, wenn Sie auf einem Weg von A nach B mehrere Verkehrsmittel aneinanderreihen. Eines unserer Ziele im Intelligenten Mobilitätsraum ist es, beide Formen für Nutzerinnen und Nutzer deutlich einfacher und komfortabler zu gestalten. Das heißt, dass Sie mit einer App, einer Flat ihre gesamte Mobilität organisieren können.

Sebastian Schmermbeck

Anhand dieses Beispiels werden zwei Ansätze des Forschungsvorhabens deutlich. Erstens, die Optimierung von Routen zur Vermeidung unnötigen Verkehrs und zweitens, die Verknüpfung der Personenbeförderung des ÖPNV mit dem Warentransport der Logistik. In beiden Fällen muss größtmögliche individuelle Flexibilität auf Finanzierbarkeit treffen, die auch die vielzitierte „letzte Meile“ abdeckt.

 

Wenn wir durch die Vernetzung von allen und allem bisher definierte Grenzen von Verkehrssystemen überwinden wollen – was heißt das für den Datenschutz? Brauchen wir den vielbeschworenen gläsernen Kunden?

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

Das wollen wir natürlich verhindern und werden Konzepte entwickeln, die eine hohe Flexibilität und intelligente Unterstützung bei der Mobilitätsplanung bieten, ohne die Privatsphäre zu verletzen. Im Bereich Datenschutz und Cybersecurity haben wir am Standort bereits viele Erfahrungen sammeln können, die wir weiter ausbauen werden.

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Diese Frage ist selbstverständlich omnipräsent. Aber bereits jetzt stelle ich, sobald ich eine Mitfahrgelegenheit über eine App suche, meinen eigenen Standort zur Verfügung. Dieses Prinzip des Ausbalancierens von freiwilliger Datenfreigabe für einen zu erwartenden Mehrwert stelle ich mir als leitendes Prinzip des Datenmanagements in einem Intelligenten Mobilitätsraum vor. Das hat sehr viel mit Informationssouveränität zu tun, die beim Einzelnen liegen sollte.

Sebastian Schmermbeck

Bereits jetzt betreiben wir leistungsfähige Systeme für die Bürgerinnen und Bürger, zum Beispiel INSA oder Mobilitätsportal, die personalisierte Einstellungen zur Verbindungsabfrage ermöglichen. Um unsere Angebote weiterzuentwickeln, benötigen wir das Feedback der Nutzerinnen und Nutzer. Selbstverständlich halten wir bei der Entwicklung unserer Systeme alle gesetzlichen Regelungen zum Datenschutz ein.

Sebastian Schmermbeck (c) Jana Dünnhaupt Uni MagdeburgSebastian Schmermbeck, Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt GmbH, Geschäftsbereichsleiter Information und Technik (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)

Wie können wir erreichen, dass ein Intelligenter Mobilitätsraum funktioniert und nicht doch jeder in sein eigenes Auto steigt?

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

Wir sind dann erfolgreich, wenn eine Autobesitzerin oder ein Autobesitzer regelmäßig auf alternative Transportmittel umsteigt. In einem Flächenland wie Sachsen-Anhalt sehe ich mittelfristig keine von allen akzeptierte Lösung, die auf Individualverkehr vollständig verzichten kann. Wenn diese Verkehrsmittel im Sinne einer „grünen Mobilität“ konzipiert werden, ist das vielleicht auch gar nicht notwendig.

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt

Es ist uns klar, dass wir nicht nur mit Digitalisierung und neuen Angeboten den Verkehr verändern werden, auch Städteplaner müssen mitziehen. Wenn wir künftig neue Häuser, Quartiere oder Straßen planen, bedeutet das auch, mitzudenken, wie Menschen und Güter emissionsfrei, sicher und ohne wertvollen Platz für Grün zu verschwenden von A nach B gelangen.

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Es wird gelingen, wenn wir alle beteiligten Akteure mitnehmen in das oben erwähnte „Labor“. Dann wird sich schnell herausstellen, dass ich eben nicht immer fünf Minuten zur Straßenbahn laufen kann. Von Montag bis Donnerstag geht das, Freitag habe ich schwere Einkäufe dabei. Dafür gäbe es dann idealerweise ein Lastenfahrrad. Das muss dann aber passgenau zur Verfügung stehen. Wenn alle gemeinsam von solchen Szenarien lernen und letztendlich mit der Lösung zufrieden sind, funktional und emotional, dann lassen sie auch das Auto stehen.

Sebastian Schmermbeck

Das A und O des Erfolgs sind zielgerichtete Angebote für unsere Bürgerinnen und Bürger. „Schnell“, „bequem“ und „direkt“ sind altbekannte Schlagworte. Hier gilt es, die Möglichkeiten der Digitalisierung noch mehr zu nutzen und unsere Angebote auszubauen. Im Sinne von „einfach“, „hochflexibel“, „nachhaltig“ und „verlässlich“.

 

Könnte das Forschungsprojekt auf die universitäre Lehre einwirken, sodass künftig qualifizierte Fachkräfte diesen Transformationsprozess aus der Uni Magdeburg heraus nachhaltig gestalten?

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

Die Fakultät für Informatik ist gerade dabei, gemeinsam mit der Fakultät für Maschinenbau eine Professur im Bereich autonomer Mobilität zu besetzen, die das Vorhaben Intelligenter Mobilitätsraum unmittelbar unterstützen wird. So kommen künftig Studierende sehr frühzeitig mit Fragestellungen aus dem Bereich digital unterstützter Mobilitätskonzepte in Berührung. Damit wollen wir auch eine nachhaltige Kompetenz und ein kritisches Bewusstsein für Fragen individueller Mobilität erzielen, die Aspekte der Ressourcenschonung in all ihren Facetten umfassen.

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt

Diese Nachhaltigkeit muss dringend gelebt werden! Als Fraunhofer-Institut sind wir zwar nicht institutionell in die universitäre Lehre eingebunden, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entwerfen aber für Studierende spannende Aufgabenstellungen für Bachelor- und Masterarbeiten direkt an aktuellen Forschungsprojekten und betreuen sie sehr eng. Einige Kolleginnen und Kollegen haben auch einen Lehrstuhl an der Uni Magdeburg inne. Die Region braucht engagierte, clevere Köpfe, die Innovationen voranbringen und sich von Beharrungskräften nicht abschrecken lassen.

Sebastian Schmermbeck

Aus Sicht der NASA GmbH ist die Fachkräftegewinnung natürlich eine dauerhafte Herausforderung. Daher ist eine starke Einbindung der Thematik in die studentische Lehre wünschenswert. Das Aufgabenprofil im Rahmen der Mobilitätswende unterscheidet sich stark von dem des klassischen Verkehrsingenieurs. Wie wäre es daher mit einem künftigen Studiengang Mobilitätsingenieurwesen?

 

Strukturwandel ist Strukturpolitik, das zeigt das Mitteldeutsche Kohlerevier eindringlich. Ist der Intelligente Mobilitätsraum eine Alternative zum Vorschlag einiger Ökonomen, nur noch in wachsende Ballungsgebiete zu investieren?

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Auf dem Land bedarf es, um lange Verkehrswege in die Städte auszugleichen, Formen der mobilen und Telearbeit sowie der Anerkennung der Wegezeit als Arbeitszeit bei einer intelligenten Arbeitsorganisation in Unternehmen. Wenn das gelingt, dann verbleiben auch qualifizierte Arbeitskräfte auf dem Land, wobei sie gleichzeitig die enormen Vorteile günstigeren Wohnraums und höheren Freizeitwertes erhalten. Die Folge: Auch Nachfrage und Kaufkraft verbleiben in ländlichen Gebieten. Diese „neue Balance“ ist aber ohne intelligente Mobilitätskonzepte mit dem von uns verfolgten ganzheitlichen Ansatz gar nicht denkbar – die Unternehmen müssen allerdings mitspielen.

Frau beim Online-Meeting im Homeoffice (c) Shutterstock Girts RagelisAuch neue Möglichkeiten der Arbeitsplatz und -zeitgestaltung müssen in die Mobilitätskonzepten einfließen. Durch Homeoffice lassen sich unter anderem viele Mobilitätsprobleme von ländlichen Regionen lösen. (Foto: Shutterstock / Girts Ragelis)

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

Diese Vorschläge der Ökonomen berücksichtigen ja im Wesentlichen volkswirtschaftliche Aspekte, aber vernachlässigen Fragen der Lebenszufriedenheit und Anforderungen des Einzelnen. Hier sind differenzierte und interdisziplinäre Betrachtungen notwendig. Die wollen wir im Projekt erreichen und dabei aber sehr wohl auch auf die Meinung der Volkswirte nicht verzichten.

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt

Der ländliche Raum ist der essenzielle Ort der Versorgung einer Stadt und dient als Erholungsraum für die Städter. Die Aufgabe einer Modellregion sollte es sein, diese Verbindungen wieder deutlich zu stärken. Ein intelligentes Verkehrssystem kann hier der Schlüssel sein.

Sebastian Schmermbeck

Dieser Vorschlag mag ökonomisch betrachtet sinnvoll erscheinen. Unsere Vorstellung ist, die Erreichbarkeit und Erschließung des ländlichen Raums zu verbessern; hier lebt die Mehrzahl unserer Bürgerinnen und Bürger. Und dafür bedarf es intelligenter Lösungen, die auch Geld kosten werden. Im Vordergrund muss stehen, die Lebensqualität in ganz Sachsen-Anhalt zu erhöhen. Die Digitalisierung von Arbeits- und Lebenswelt einschließlich der Mobilität kann den Strukturwandel in allen Facetten nach unserer Auffassung wirksam unterstützen.

 

Warum glauben Sie, dass das Vorhaben gelingt?

Prof. Dr. rer. nat. Michael Scheffler

Der Intelligente Mobilitätsraum ist ja erst einmal eine Ideenschmiede, die die Region dabei unterstützen will, sich weiterzuentwickeln, Ressourcen zu sparen, Verkehrsströme zu reduzieren und die Lebensqualität zu verbessern. Dahinter stecken hoch flexible Prozesse, Idealismus und nicht zuletzt politischer Wille zur Umsetzung. Letztendlich müssen wir als Land gemeinsam formulieren, wo wir in 10, in 20 Jahren stehen wollen.

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt

Wir haben in Magdeburg in den letzten Jahren in vielen Forschungs- und Industrieprojekten gezeigt, dass wir verlässlich und effizient interdisziplinär zusammenarbeiten können. Dieses Netzwerk ist robust und bringt stetig Neues hervor, sorgt für Tatendrang und Optimismus.

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Für ein Gelingen gibt es aus meiner Sicht viele gute Gründe. Die Magdeburger Region ist exemplarisch und alle Akteure zeigen ein großes Bedürfnis nach neuen Lösungen. Wohnungsbaugesellschaften möchten ihre ländlichen Bestände nicht abschreiben, ländliche Gemeinden ihre Bevölkerung halten. Darüber hinaus verlangt die Öffentlichkeit immer mehr nach grüneren Konzepten.

Sebastian Schmermbeck

Letztendlich verfügen alle Partner im Modellprojekt über weitreichende Erfahrungen und Kompetenzen, haben mit ihren leistungsfähigen und hochmotivierten Teams schon zahlreiche Projekte erfolgreich umgesetzt.

 

Beschreiben Sie zum Abschluss doch bitte kurz Ihre Vision, wie die Region in 20 Jahren in Sachen Mobilität aufgestellt ist!

Prof. Dr. rer. nat. Michael Scheffler

Bei einer Fahrt in die Stadt, egal, ob vom Stadtrand oder aus ländlicher Region, buche ich auf meiner Armbanduhr ein autonom fahrendes Fahrzeug, das binnen weniger Minuten verfügbar ist. Darin sitzen Mitfahrer, miteinander im Gespräch, und ich kümmere mich nur um die Zieleingabe, nicht um die Route, habe Zeit für Unterhaltungen oder zum Zeitunglesen. Ehemalige Parkplatzflächen werden zur Solarstromerzeugung genutzt, ich kann mir den von meiner Dach-Solaranlage generierten Strom für mein kurzzeitig gemietetes Elektroauto dort zapfen, wo ich gerade bin, weil meine Stadtwerke dafür Verwertungskonzepte haben. Und: Ich bin, egal mit welchem Verkehrsmittel, schneller am Ziel als heute, weil der Verkehr auf unseren Straßen drastisch vermindert wurde.

Prof. Dr.-Ing. Andreas Nürnberger

In einem Satz: Jede Bürgerin und jeder Bürger jeder Altersgruppe kann von jedem Ort des Landes mit einer App innerhalb von 15 Minuten eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln in jeden Ort des Landes starten.

Prof. Dr. rer. nat. Andreas Wendemuth

Durch intelligente Work-Life-Konzepte ist die Landflucht gestoppt, Familien und naturliebende Menschen wohnen im Umland der Großstadt, Kaufkraft und Nachfrage sind dort erhalten. Der Städter findet individuell für ihn zugeschnittene Mobilität aufs Land und ebenso geht es in der anderen Richtung. In der nun sehr grünen Großstadt ist der Individualverkehr weitgehend verschwunden. Ein dichter Verkehrsmix aus ÖPNV, E-Bikes und Rollern für die „letzte Meile“ sowie Ride-share-Dienste bestimmen das Bild. Das wird akzeptiert und genutzt, weil es mit Hilfe von individuell adaptierter Informationstechnologie reibungs- und nahezu wartezeitfrei funktioniert.

Sebastian Schmermbeck

Wir kommen mit einem Minimum an Verkehr aus. Wir fahren vollkommen emissionsfrei und ohne eigenen Pkw. Ich kann von überall jeden Ort zu jeder Zeit im Land schnell, direkt und bequem mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen. Die Information, Buchung und Bezahlung von intermodalen Reiseverbindungen ist einfach und transparent. Ich kann überall dabei sein, ohne meinen Ort verlassen zu müssen.

Prof. Dr.-Ing. Fabian Behrendt

Der Transitverkehr wird fast ausschließlich auf der Schiene stattfinden. Wir werden emissionsfrei durch das Land reisen. In den Städten werden primär nicht mehr Fahrzeuge das Straßenbild bestimmen, sondern Menschen. Sie werden gehen, mit einem autonomen Rad fahren, die Straßenbahn nutzen oder sich in einem der vielen Miniparks treffen, die geschaffen werden konnten, als private Autos aufhörten, sozial und verkehrlich notwendig zu sein.

 

Meine Herren, vielen Dank für das Gespräch!