„Es wurde bereits viel Forschung darüber betrieben, wie das Virus in die menschliche Zelle gelangt, was passiert, wenn es im menschlichen Körper ist, wie es infiziert, sich vermehrt und verbreitet“, sagt Prof. Dr. Heike Walles vom Institut für Chemie an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg (OVGU), „aber es fehlt ein Zwischenstück.“ Diese Lücke birgt die Antwort auf die Frage, wie das Virus aus dem Menschen gelangt. Und damit die Erkenntnis, warum einige Corona-Infizierte mehr Viren als andere verteilen und zum „Superspreader“ werden.
In einem interdisziplinären Projekt, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit fast 900.000 Euro gefördert wird, wollen die Biomedizinerin und ihr Team mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus der Physik und Verfahrenstechnik an der OVGU dieses Geheimnis knacken. Gemeinsam gehen sie in den nächsten drei Jahren der Frage nach, wie die Viruspartikel in unserem Körper in die winzigen „Schwebeteilchen“, die Aerosole, verpackt werden. Sie wollen wissen, welche Mechanismen dazu führen, dass diese Partikel in den Atemwegen anderer Menschen anhaften, dort platzen und zu weiteren Infektionen führen. Dabei sollen Simulationsmodelle entstehen, mit denen belastbare Vorhersagen über Verteilung und Verbreitung der Aerosole getroffen werden können. „Wir gehen in eine unerforschte Richtung, wir wollen diesen Prozess verstehen“, sagt Prof. Heike Walles. Der begann mit einer Beobachtung chinesischer Forscherinnen und Forscher Ende 2020: Sie erkannten, dass Menschen in einem Kaufhaus unterschiedlich starke Belastungen aufwiesen und leiteten daraus ab, dass nicht jeder von ihnen gleich viel Aerosole abgegeben hat – das war die Geburtsstunde der „Superspreader“. Es wurde schnell klar, dass sie kein Corona-Phänomen darstellen, sondern beispielsweise auch bei der Grippe zu finden sind. „Nicht jeder Infizierte ist auch ein Superspreader“, sagt die Magdeburger Forscherin, „es handelt sich dabei meist um infizierte Menschen mit einer hohen Viruslast.“ Aber was passiert in deren Körper? Was macht sie so ansteckend? Die Antworten stecken tief im Inneren der Menschen und basieren auf sehr kleinen Teilchen. Wer schnäuzt, niest, hustet produziert aus einem Schleim in den oberen Atemwegen große Tropfen. Die sind beherrschbar, können mit einer Maske leicht abgewehrt werden. „Gefährlich“, so die Biomedizinerin, „sind die kleinen Tropfen.“ Die seien zu winzig, könnten nicht mit der normalen Luft transportiert werden. Und doch würden sie ihr Ziel finden, weil sie die Tröpfchen als Vehikel benutzen. Wie die Viren in die Tröpfchen gelangen, wie Aerosole im Atemtrakt entstehen, das hätte „noch niemand erforscht, und wir können das jetzt“, sagt sie.
Wir, das sind die Magdeburger Forscherin von der „Core Facility Tissue Engineering“ (TE), der Physiker Prof. Claus-Dieter Ohl von der Fakultät für Naturwissenschaften sowie der Juniorprofessor Dr.-Ing. Fabian Denner vom Lehrstuhl für Mechanische Verfahrenstechnik und ihre Teams. Wenn sie ihren Ansatz erläutern, klingt der so naheliegend, dass sich fast jeder wundert, warum nicht schon jemand in diese Richtung geforscht hat. „Es fehlen oft viele Voraussetzungen. Wir haben festgestellt, dass wir hier die richtige Expertise haben“, sagt Professorin Walles. Der Schlüssel ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit. „Bei uns können sich unterschiedlichste naturwissenschaftliche Disziplinen effektiv gegenseitig befruchten“, meint Prof. Claus- Dieter Ohl.
Prof. Ohl im Labor (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Im Forschungsprojekt hat jeder wichtige Aufgaben. Das Team um Prof. Claus-Dieter Ohl wird Aerosole unterschiedlicher Größe produzieren, die den natürlichen in unserer Lunge sehr ähnlich sind. Darin wollen die Physiker probeweise fluoreszierende Proteine verpacken. Die Biomedizinerin und ihr Team werden im Labor aus Polymeren künstliche Gewebemodelle aus unterschiedlichen Regionen unserer Atemwege züchten und unter anderem Teile einer künstlichen Lunge wachsen lassen. Das Team um Jun.-Prof. Fabian Denner wird die riesige Datenmenge aus den Experimenten in Simulationsmodelle einpflegen, um damit die Basis für die Entscheidungen zu lie- fern, welche Anpassungen und Veränderungen in den nächs- ten experimentellen Ansätzen nötig sind. Im Mittelpunkt der Forschungen in Magdeburg steht der Flüssigkeitsfilm, der sich auf den Organen unseres Atemsystems bildet. Denn, wenn dieser aufreißt, werden Tröpfchen weggeschleudert, die dann als Aerosole in der Atemluft schweben und die Viren nach außen tragen und verteilen.
Damit die physikalischen Bedingungen in den Atemwegen simuliert werden können, sollen Proteinlösungen als „Schleimersatz“ auf die Modelle aufgebracht werden. Getestet wird dann, wie sich die Aerosole in den Röhrensystemen durch Hochdruckverfahren verteilen, wie sie an biologischen Oberflächen haften und schließlich platzen. „Wir wollen sehen, wie so ein Partikel eingepackt wird, wenn der Film reißt“, erklärt Prof. Claus-Dieter Ohl. Für die mikroskopische Beobachtung so kleiner Tröpfchen-Bewegungen nutzen er und sein Team die schnellste Kamera, die es derzeit in Deutschland gibt. Nicht ohne Grund: Das Virus ist unvorstellbar klein, umfasst kaum 120 Nanometer. „Wann der Flüssigkeitsfilm aufreißt, bestimmen atomare Kräfte, auf die das Virus einen Einfluss haben muss, das wollen wir experimentell betrachten“, sagt er. An diesem Punkt kommen die Simulationen ins Spiel, denn was sich nicht im Labor betrachten lässt, muss berechnet werden. Dabei liegt der Ball im Feld von Jun.-Prof. Fabian Denner. Er erklärt: „Die Simulationen können nur so gut sein, wie die mathematischen Modelle, auf denen sie beruhen.“ Dabei eine Genauigkeit zu erhalten, die Vorhersagen erlaube, sei „sehr schwierig“. Was jedoch nicht bedeute, dass es nicht trotzdem möglich ist. Eher im Gegenteil. Dem Experten der Fakultät für Verfahrens- und Systemtechnik geht es wie seiner Kollegin und seinem Kollegen, sagt er. Alle würden spüren, dass etwas bisher Unverstandenes zum Greifen nah ist.
Untersuchung von Proben im Labor (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Zahlreiche Forschungsstunden stehen bevor, unzählige Experimente und Wiederholungen, um zu erkennen, welche Bedingungen vorhanden sein müssen, damit viele Aerosole entstehen. Wenn das geklärt wird, ist das Geheimnis der „Super- spreader“ geknackt. Für diese Entschlüsselung arbeitet das Team fast wortwörtlich Hand in Hand. Für den Blick ins Neuland bringen alle viel Erfahrungen mit ins Projekt. So beschäftigt sich die Biomedizinerin seit langem und in vielen Ansätzen damit, Gewebemodelle für die Infektionsforschung nutzen zu können. Was in den kommenden Monaten in Magdeburg erforscht wird, können die Wissenschaftlerin- nen und Wissenschaftler direkt an Zellen anwenden. Möglich wird das durch Gewebephantome, die in den Laboren von Prof. Dr. Heike Walles wachsen. In der „TE“ züchten Forscherinnen und Forscher künstliches Gewebe nach biologischem Vorbild. Im Gebäude 28 wachsen auch Fach-Disziplinen zusammen, vernetzen sich Technik- und Lebenswissenschaften. Seit knapp drei Jahren baut die Wissenschaftlerin das Zentrum an der OVGU auf. Sie hofft, „dass mit dem Projekt auch insgesamt die Bedeutung der Gewebemodelle stärker ins Bewusstsein gerät, kombinierte Modelle eine Alternative für Tierversuche werden“ und bis zum Jahr 2030 „hoffentlich erste Phase-I-Studien komplett ersetzt werden“ könnten. Eine ihrer vielen Visionen als Forscherin füllt sich bereits mit Leben: Wissbegierige kommen an die Magdeburger Uni, um im „TE“ zu lernen und neue Dinge voranzutreiben. Eine andere hat sie im Blick: Forschungen, wie die des „Superspreader“-Projekts, sollen in die Lehre eingebracht werden, um damit Interaktionen zu schaffen, mit denen Studierende, Schülerinnen und Schüler begeistert werden können. „Wir kombinieren die Biologie mit der Technologie, so etwas gehört dazu, wenn man sich dort bewegen möchte, wo noch niemand war“, sagt Prof. Heike Walles.
Beim Beschreiten des „Forschungsneulandes“ im „Superspreader“-Projekt treibt alle im Team die Aussicht auf den Erfolg an. Der Weg soll in Richtung Anwendbarkeit führen, meint Prof. Ohl. „Ich will Ergebnisse liefern, die Hand und Fuß haben, um das Infektionsrisiko zu mindern.“ Dass bei so einem komplexen Thema auch mit „Umwegen“ zu rechnen ist, dass sich möglicherweise auch „Sackgassen“ auftun, schrecke niemanden ab. „Etwas zu tun, was schwierig ist, das ist bei jeder Forschungsarbeit mein Ansporn“, sagt der Physiker. „Ein großes Ergebnis kann eben nur herauskommen, wenn vorher genau geprüft wurde, was nicht geht.“ Ähnlich sieht es sein Forschungskollege. „Wir setzen uns sehr hohe Ziele, es ist klar, dass nicht alle Schwierigkeiten und Hürden vorherzusehen sind“, so Jun.- Prof. Fabian Denner. Die ersten Schritte sind gemacht. In den vergangenen Wochen hat das Team um die Biomedizinerin Zellen gezüchtet und begonnen, damit zu forschen. In der Arbeitsgruppe um Fabian Denner laufen die Vorarbeiten für Simulationen, für numerische und mathematische Methoden. In der Fakultät für Naturwissenschaften haben der Physiker und sein Team die experimentellen Vorarbeiten erledigt und Equipment gekauft, um die Kleinst-Partikel messen zu können.
Jun.-Prof. Denner auf dem Campus (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Viele, sehr viele Schritte sind nun nötig, um das „Superspreader-Rätsel“ zu knacken. „Wenn wir das Geheimnis lüften, eröffnet sich ein breites Spektrum für weitere Ansätze“, sagt Prof. Walles. Nicht nur Covid könnte Einhalt geboten werden. „Wir hoffen, Medikamente entwickeln zu können, die bei jeder aerosoltransmittierten Virusinfektion helfen, auch bei solchen Krankheiten wie der Schweinepest“, erklärt Prof. Claus-Dieter Ohl. Mit den Erkenntnissen aus der OVGU könnte beispielweise ein Spray entwickelt werden, dass die Oberflächenspannung in den Atemwegen so verändert, dass virentragende Aerosole gar nicht erst entstehen – oder, dass sie die Atemwege nicht verlassen. Die Forscherinnen und Forscher von der OVGU könnten bald den Schlüssel in der Hand halten, warum es „Superspreader“ gibt. Mit Erkenntnissen aus Magdeburg zu den grundlegenden Wechselwirkungen würden sich die Wissenslücken schließen und sich Visionen in Realität verwandeln.
GUERICKE facts
- Partikelgröße, Temperatur und Luftfeuchtigkeit beeinflussen, wie schnell Tröpfchen und Aerosole absinken oder in der Luft schweben.
- Die Übertragung durch die Luft macht es Krankheitserregern leicht, denn nichts nimmt der Mensch so oft am Tag auf wie Luft, schließlich atmet er zwölf Mal pro Minute.
- Eine Lösung aus Fetten und Proteinen senkt die Oberflächenspannung des Flüssigkeitsfilms in den Bronchien, was uns beim Einatmen hilft und die gleichmäßige Ausdehnung der Lunge sichert