Wussten Sie, dass es Zellen im Körper gibt, die Knochen abbauen? Das menschliche Skelett unterliegt einer andauernden Renovierung. Das bedeutet, dass ständig Knochenmasse abgebaut wird und an diesen Stellen neuer Knochen ersetzt wird. Hierfür ist ein Gleichgewicht zwischen Osteoklasten (Knochen abbauenden Zellen) und Osteoblasten (Knochen aufbauenden Zellen) essentiell. Die Knochen abbauenden Osteoklasten schütten an ihrer Unterseite Salzsäure aus, um hiermit das Knochenmaterial aufzulösen, sodass neuer Knochen an der Stelle entstehen kann. Hierbei kann ein pH-Wert von bis zu 1 entstehen, was einem sehr sauren Milieu entspricht. Diese Bedingungen greifen jedoch nicht nur den Knochen an, sondern können auch metallische Werkstoffe zerstören. Das ist normalerweise im menschlichen Körper kein Problem, außer für Menschen mit Implantaten bzw. sogenannten Endoprothesen, also metallischen Implantaten. Denn hier wirken die Osteoklasten nicht nur schädigend auf den Knochen, sondern das saure Milieu greift entsprechend auch die eingebauten Prothesen an und stellt für einen metallischen Werkstoff eine große Belastung dar. Mechanismen und Zusammenhänge, die ein Maschinenbauer eigentlich nicht beachten muss. Außer, wenn er gemeinsam mit einer Biologin und einem Orthopäden an neuen Werkstoffen für Implantate forscht.
Implantation einer Knietotalendoprothese mit einem OP-Roboter, der den Orthopäden bei der hochpräzisen Durchführung der Implantation unterstützt. (Foto: Christian Morawe / UMMD)
Prof. Dr.-Ing. Thorsten Halle, Leiter des Lehrstuhls Metallische Werkstoffe am Institut für Werkstoff- und Fügetechnik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, Prof. Dr. Jessica Bertrand, Leiterin des Forschungslabors der Orthopädischen Universitätsklinik, und Prof. Dr. Christoph Lohmann, Direktor der Orthopädischen Universitätsklinik, wollen in einer Abeitsgruppe gemeinsam herausfinden, wie Endoprothesen im Körper wirken, insbesondere die Abriebpartikel, die täglich entstehen, wenn diese Implantate im menschlichen Organismus belastet werden. Das Team charakterisiert die Reaktion des menschlichen Körpers auf die metallischen Abriebpartikel und untersucht, wie diese zu metallischen Ionen, elektrisch geladene Atome oder Moleküle, zerfallen oder aktiv zersetzt werden. „Wir versuchen, Werkstoffe für die Anwendung im oder am Körper dahingehend zu optimieren, dass sie weniger korrodieren“, erklärt Prof. Halle. Korrosion kommt vom lateinischen corrodere und bedeutet so viel wie „zersetzen“, „zerfressen“, „zernagen“. Diese Prozesse werden durch die Reaktion des Metalls mit seiner Umgebung, zum Beispiel Wasser oder Sauerstoff, hervorgerufen und Zerstörungen der Oberfläche eines Metalls, beispielsweise wenn es „rostet“, sind die Folge. „Korrosion ist einer der häufigsten Gründe, warum Endoprothesen gewechselt werden, das heißt aus den Patientinnen und Patienten wieder entfernt werden müssen“, erklärt der Orthopäde Prof. Dr. Christoph Lohmann. Die Lösung des Problems aus der Sicht des Werkstoffexperten Prof. Dr.-Ing. Thorsten Halle lautet: „Die Anzahl der Ionen, die sich aus den metallischen Endoprothesen im Körper durch chemische Reaktionen lösen, muss so reduziert werden, dass keine toxischen Konzentrationen im Gewebe auftreten können.“
Prof. Thorsten Halle im Labor (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Bestehendes besser machen
Das große Ziel des forschenden Trios ist es, Korrosion an Endoprothesen zu vermeiden. „Korrosion an Endoprothesen ist ein Schadensmechanismus, der vielleicht noch gar nicht so lange bekannt ist und den wir fokussiert weiter untersuchen wollen. Das ist eine wichtige Stellschraube für die Langlebigkeit von Endoprothesen, die wir weiter bearbeiten wollen“, ergänzt die Biologin Prof. Jessica Bertrand. „Es gibt viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zurzeit daran forschen, die Menge an Abriebpartikeln aus Endoprothesen zu vermeiden, zum Beispiel über unterschiedliche Beschichtungen. Aber wir gehen den Weg der Korrosionsvermeidung, weil wir glauben, dass das einer der Hauptmechanismen ist, warum Endoprothesen versagen“, fügt die Naturwissenschaftlerin an.
Langfristiges Ziel der Forschungen ist es, die Herstellung von Endoprothesen anzupassen, ohne das Ausgangsmaterial außerhalb der zulässigen Grenzen zu verändern. Denn der Wechsel von Materialien bei der Produktion von Medizinprodukten wäre sehr teuer und zeitaufwendig, so Professor Halle. Vor allem der Prozess der Werkstoffzulassung ist langwierig und kostspielig. Aktuell bestehen Endoprothesen aus verschiedenen Kombinationen von Titanlegierungen, Kobalt-Chrom-Legierungen, Edelstahlen, Polyethylen oder Keramiken.
Prof. Jessica Bertrand im Labor (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Die Biologin, der Maschinenbauer und der Orthopäde möchten deshalb die bereits bestehenden Endoprothesenmaterialien im Rahmen der zulässigen Grenzen optimieren, um künftig Wechseloperationen (Revisionen) möglichst weit hinauszuzögern und somit die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten zu verbessern. „Diese Revisionsoperationen werden genau dann notwendig, wenn das Implantat ausfällt, häufig durch Korrosion an der Endoprothese. Genau diese Schadensfälle wollen wir reduzieren und im Idealfall sogar vermeiden. Aber dazu ist es wichtig, die zugrundeliegenden Mechanismen zu verstehen“, erklärt der Materialforscher Halle. „Was passiert genau an der Grenzfläche, an der Oberfläche? Welche Zellen wirken da? Anschließend könnten wir aus dem Bereich des Maschinenbaus heraus, also durch Kenntnis von Fertigungsprozessen oder Erfahrungen aus der Wärmebehandlung, diese Werkstoffe so beeinflussen, dass sie als Implantate eine bessere Performance zeigen.“
Über Forschungsgrenzen hinweg
Eingebettet ist das ungewöhnliche Forschungsprojekt in das Promotionsprogramm MEMoRIAL, eine vom Europäischen Sozialfonds ESF geförderte Graduiertenschule. MEMoRIAL steht dabei für „Medical Engineering and Engineering Materials“. In diesem Programm werden internationale Promovierende in zwei besonders forschungsstarken ingenieurwissenschaftlichen Profillinien der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg unterstützt: der Medizintechnik und den Materialwissenschaften. Nicht zuletzt geht es – wie auch in dem daraus entstandenen Projekt der drei Wissenschaftler – darum, die interdisziplinäre Zusammenarbeit der beiden Themenfelder zu stärken. „Das ist aus unserer Sicht sehr gut gelungen“, so Maschinenbauer Halle. „Mittlerweile ist es zum Beispiel nicht mehr nur eine Zusammenarbeit zwischen mir und Professorin Bertrand, sondern Professorin Bertrand arbeitet auch mit vielen anderen Kolleginnen und Kollegen aus der Fakultät für Maschinenbau zusammen. Es gibt Wirkungen hinein bis in die Fakultät für Verfahrens- und Systemtechnik. Aus unserer Zusammenarbeit sind also eine Vielzahl von Spin-off-Projekten entstanden.“
Die ungewöhnliche interdisziplinäre Zusammenarbeit hatte in der klinischen Erfahrung und den daraus entstandenen Fragestellungen des Orthopäden Lohmann ihren Ausgangspunkt. „Ich habe ein großes Potenzial in den Werkstoffen und deren Modifikation sowie der Oberflächenbearbeitung gesehen“, erzählt er. Daraus hätten sich Fragen und Probleme entwickelt, die Maschinenbauer bzw. Materialforscher auf den Plan riefen zu Themen wie: Beeinflusst bzw. unterdrückt die Oberflächenstrukturierung das Anhaften von bestimmten Zellarten? „Die Fragen, die die Mediziner hatten, konnten problemlos auf ingenieurtechnische Fragestellungen übertragen werden, die wir teilweise recht einfach, aber auch teilweise mit erhöhtem Aufwand und nachgelagerten Forschungsprojekten beantworten konnten“, so Prof. Halle. Als die fachübergreifende Zusammenarbeit vor etwa fünf Jahren begann, traten aber auch schnell weitere Problematiken auf: „Die größte Herausforderung, vor der wir zu Beginn unserer Zusammenarbeit standen, so erschien es mir jedenfalls, war die unterschiedliche Wissenschaftssprache“, erinnert sich der Ingenieur Thorsten Halle. „Wenn ich von irgendeiner Messung geredet habe, dann meinte ich das normalerweise in einem anderen Kontext als Professorin Bertrand oder Professor Lohmann.“ Es habe anderthalb Jahre gedauert, bis sich alle gegenseitig an die jeweilige Wissenschaftssprache des oder der anderen angepasst, sie quasi „erlernt“ hätten. Seitdem funktioniere die Zusammenarbeit aber reibungslos.
Auswertung der Ergebnisse von Untersuchungen metallischer Implantatwerkstoffe im Rasterelektronenmikroskop (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Aber wie soll man sich das eigentlich konkret vorstellen, wenn Biologen, Orthopäden und Maschinenbauer zusammenarbeiten? Vor der Pandemie haben sich alle mindestens einmal im Monat getroffen und sich gegenseitig ihre jeweiligen Forschungsergebnisse erklärt. Die Biologin Jessica Bertrand stellte beispielsweise die biologischen Daten zu unterschiedlichen metallischen Werkstoffen vor und präsentierte den anderen, wie die Zellen und Bakterien darauf reagiert hatten oder zeigte, dass bestimmte Substanzen Korrosion auslösen. Prof. Halle wiederum teilte seine gewonnenen Erkenntnisse aus der Materialwissenschaft, sodass am Ende eine Zusammenschau der Expertisen entstand. So verstand der Ingenieur Halle, was Osteoklasten sind und wie sie wirken, erfuhr die Biologin Bertrand, dass diese Zellen eine extrem starke Belastung für metallische Werkstoffe darstellen können. Durch den intensiven Einblick in die anderen Fachgebiete erkannten die Wissenschaftlerin und Wissenschaftler Herausforderungen, die sie vorher nie als problematisch eingeschätzt hätten. So charakterisiere man beispielsweise metallische Werkstoffe mit den Worten stabil und robust, so Prof. Halle. „Wenn es aber regnet, dann korrodieren diese Stoffe, also ‚rosten‘. Aber genau das passiert eben auch im Körper, wo wir hohe Salzgehalte und dabei niedrige pH-Werte haben, was tatsächlich herausfordernd für mich als Materialwissenschaftler ist.“
Unterschiedliche Perspektiven bringen die Lösung
In den gemeinsamen Meetings geht es schließlich auch darum, aus biologischer, medizinischer und werkstoffwissenschaftlicher Sicht die Schlüsselfaktoren zu identifizieren, die wichtig sind für notwendige Experimente und dem damit verbundenen Versuchsaufbau, um die Umstände innerhalb des Körpers so realistisch wie möglich nachzustellen. Die aus den unterschiedlichen Perspektiven erarbeiteten Lösungsansätze wurden zusammengeführt und es entstand ein Experimentdesign, das die Wünsche und Bedürfnisse sowohl der Biologin als auch des Mediziners und des Ingenieurs vereinte. Um die auf Implantate wirkenden Schädigungsmechanismen zu verstehen, wurde untersucht, welche Wechselwirkungen es zwischen der Oberfläche des Implantats und den Zellen gab und wie dieser Zusammenhang die Korrosion beeinflusste. „Gemeinsam stellen wir dann klinische oder intraoperative Probleme im Labor nach oder simulieren diese“, so Prof. Lohmann.
Prof. Christoph Lohmann mit einer Prothese in der Hand (Foto: Christian Morawe / UMMD)
Es sei ziemlich ungewöhnlich, dass Medizin und Maschinenbau gemeinsam mit der Biologie auf diese Art und Weise zusammenarbeiten, gesteht der Ingenieur Thorsten Halle. Es gebe zwar deutschlandweit Arbeitsgruppen, die auch im Bereich der orthopädischen Implantate, insbesondere zu den mechanischen Belastungen forschten, aber die Zusammenarbeit zwischen Materialwissenschaften, Biologie und der Klinik sei schon speziell. Aus der Sicht von Prof. Halle haben die Forschenden an der Uni Magdeburg einen großen Vorteil: „Wir haben als Universität mit einer medizinischen Fakultät Zugriff auf klinische Ergebnisse.“ Das heißt: Wenn der Orthopäde Lohmann ein Implantat operativ entfernen muss, dann kann anschließend der Materialforscher Halle dieses Implantat untersuchen, um zu sehen, warum sich das künstliche Gelenk zum Beispiel entzündet hat. Darüber hinaus gibt es eine Forschungsdatenbank, auf die die Wissenschaftlerin und die Wissenschaftler zugreifen können. „Das ist für uns unglaublich erhellend, wenn wir uns mal anschauen: Warum hat denn das Implantat versagt? Was kann man da besser machen?“, so Halle „Wir müssen also nicht nur am Reißbrett theoretisch Modelle ausarbeiten, sondern können Ergebnisse als Rundkopplung zwischen biologischen, materialwissenschaftlichen und klinischen Fragestellungen zusammenführen.“
Diese gemeinsam gewonnenen Erkenntnisse sind für künftige Patientinnen und Patienten enorm hilfreich. Denn die Korrosion des Implantats kann nicht nur auf den umliegenden Knochen wirken. Die gelösten Metallionen haben die Fähigkeit, sich im ganzen Körper zu verteilen, sodass es zu Nervenschädigungen oder Missempfindungen kommen kann. Prof. Lohmann gibt dafür ein anschauliches Beispiel: Ein Berufskoch hatte eine Prothese, die korrodiert war. Er kam mit Geschmacksverlust und Herzrhythmusstörungen in die Klinik. Die Prothese wurde ausgetauscht und er konnte wieder schmecken und erfolgreich seinem Beruf nachgehen. „Das ist natürlich ein gravierender Fall, aber ich finde es als Biologin faszinierend, wie so ein Stückchen Metall, eine Endoprothese, die eigentlich das Leben verbessern soll, zu diesen schwerwiegenden Nebenwirkungen führen kann“, konstatiert Prof. Bertrand. Gemeinsam durch die Zusammenführung von unterschiedlicher Expertise und Perspektive kann schneller neu gedacht und erfolgreich geforscht werden, so das Fazit des Ingenieurs Prof. Thorsten Halle: „Jeder bringt seine Fachkenntnisse gewinnbringend ein: Der Orthopäde über die Implantationstechnik und die Erfahrungen mit Patientinnen und Patienten, die Biologin mit ihrer Expertise zu Zelldifferenzierungen und der zerstörerischen Kraft von Ionen auf den Organismus und ich als Werkstoffwissenschaftler die Kenntnisse über Korrosionsvermeidung. Also ich glaube, wir sind in dieser Kombination einfach ein schlagkräftiges Team.“
Implantation einer Schulter-Endoprothese in das Modell eines Oberarmknochens (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Guericke facts
- Endoprothesen, beziehungsweise ihre Werkstoffe, halten unter Laborbedingungen ca. 20 Jahre. Bei optimalen Patienten-/Körperbedingungen ist das auch so.
- Bei ungefähr 5 Prozent der Patienten und Patientinnen jedoch muss ein Implantat bereits nach 10 Jahren gewechselt werden.
- Die häufigsten Gründe für den Implantatwechsel sind Verschleiß, beziehungsweise Korrosion, Infektionen und Fehleinbau.