Am 20. Februar ist der Tag der sozialen Gerechtigkeit. Für einem demokratischen Sozialstaat, in dem wir in Deutschland leben, ein wichtiger Begriff. Doch was heißt denn soziale Gerechtigkeit genau und kann man diesen Idealzustand in Zeiten von Inflation und Klimawandel wirklich erreichen? Und wenn ja, wie weit ist Deutschland von sozialer Gerechtigkeit entfernt? Darüber spricht der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Andreas Knabe im Interview.
Heute ist der Tag der sozialen Gerechtigkeit. Was ist das denn eigentlich?
Soziale Gerechtigkeit ist natürlich ein schillernder, aber auch ein schwieriger Begriff. Er beschreibt ein moralisches, normatives Konzept, für das es keine allgemeingültige, von allen gleichermaßen akzeptierte Definition gibt. Wenn man sich allerdings anschaut, was im Allgemeinen darunter verstanden wird, dann bezieht man sich eigentlich immer auf eine Art Gleichheitsgrundsatz. Wenn Menschen in gleichartigen Situationen ohne erkennbaren Grund unterschiedlich behandelt werden, dann kann soziale Ungerechtigkeit vorliegen. Der Gleichheitsgrundsatz heißt aber nicht, dass am Ende alle Menschen ein materiell gleiches Leben führen müssten, also dass alle eine gleich große Wohnung haben, das gleiche Auto fahren, die gleichen Klamotten tragen und so weiter. Es geht also nicht um Gleichmacherei. Die Menschen sind sehr unterschiedlich und haben ganz unterschiedliche Wünsche, Vorstellungen und Bedürfnisse. Sie sollen aber alle die gleiche Möglichkeit haben, ihre unterschiedlichen Vorstellungen in ihrem Leben auch umzusetzen. Also man könnte kurz sagen, dass soziale Gerechtigkeit darin besteht, dass alle Menschen die gleichen Rechte und die gleichen Möglichkeiten haben, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten.
Deutschland ist ein Sozialstaat und der Gedanke der sozialen Gerechtigkeit ist in unserem Grundgesetz festgeschrieben. Wie weit entfernt sind wir denn in Deutschland von diesem Idealzustand?
Ob wir soziale Gerechtigkeit erreicht haben oder wie weit wir davon entfernt sind, hängt natürlich immer davon ab, wen Sie fragen. Es gibt eben unterschiedliche Vorstellungen davon, was soziale Gerechtigkeit wirklich ist. Es gibt regelmäßige Umfragen, in denen Menschen gefragt werden: "Sind Sie der Meinung, dass es in Deutschland alles in allem sozial gerecht zugeht?" Und da sagt in der Regel eine große Mehrheit, dass sie das nicht so sehen. Da scheinen die Menschen sich einig zu sein. Wo sie sich nicht einig sind, ist dann bei der Frage, warum es nicht sozial gerecht zugeht. Wenn man nach den Details fragt, dann sagen einige: Ja, die Einkommensverteilung ist zu ungleich und man bräuchte eigentlich höhere Steuern und mehr Umverteilung. Andere sind wieder der Meinung, dass die Steuern schon viel zu hoch sind und bereits zu viel umverteilt wird. Fragt man zur Rentenpolitik, dann sind einige der Meinung, dass die Renten zu niedrig sind und die Lebensleistung der Rentner nicht genug gewürdigt wird. Andere sind der Meinung, dass die Renten zu hoch sind und dadurch in der Zukunft die jüngeren Generationen viel zu stark belastet werden. Ähnliche Diskussion haben Sie in der Bildungspolitik und beim Klimaschutz. In allen Feldern sind zwar die Menschen in der Mehrheit der Meinung, dass es nicht gerecht zugeht, aber sie sind sich nicht einig darin, wie man es denn eigentlich besser machen kann. Dadurch ist es schwer zu bestimmen, wie sehr wir dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit schon entsprechen.
Man kann aber auch versuchen, von der Gefühlsebene wegzugehen und sich stärker objektive Maße des sozialen Fortschritts und der sozialen Gerechtigkeit anzuschauen. Das wird seit Jahrzehnten im Bereich der Sozialindikatorenforschung gemacht. Dort versucht man, möglichst viele Maßzahlen zu sammeln und in geeigneter Form zusammenzustellen, um dann ein umfassendes Bild des gesellschaftlichen Zustandes zu erhalten. Nehmen wir zum Beispiel den Index der menschlichen Entwicklung. Der wird von der UNO herausgegeben und ist wohl das bekannteste dieser Indikatorensysteme. Da geht der materielle Wohlstand ein, also das Einkommen, aber auch der Bildungsstand und der Gesundheitszustand in den Ländern. Im Vergleich sehen wir, dass Deutschland unter allen gut 200 Ländern der Welt unter den Top 10 ist. Da stehen wir also gar nicht so schlecht da. Jetzt kann man sagen, dass man mit nur drei Indikatoren vielleicht nicht alles Wichtige erfasst. Es gibt auch andere Ansätze, die deutlich mehr Indikatoren zusammenstellen. So ist zum Beispiel im Social Progress Index auch so etwas wie Umweltqualität, das Ausmaß der politischen Rechte und Gleichberechtigung der Geschlechter und anderes mehr enthalten. Und auch da schneidet Deutschland unter den Top 10 weltweit ab.
Betrachtet man die Einkommensungleichheit, sieht man, dass die Einkommen in Deutschland ungleich verteilt sind. Es gibt einige Länder, wo die Einkommensungleichheit geringer ist. In den meisten Ländern der Welt ist sie allerdings größer als in Deutschland. Deutschland hat auch eine der größten Sozialstaatsquoten auf der Welt, also die Sozialausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt sind in kaum einem Land der Welt höher als bei uns. Es ist sicherlich noch nicht alles perfekt. Man kann sicherlich noch viel machen, man hat auch durchaus Grund, hier und da zu klagen. Aber man muss sich trotzdem an so einem Tag der sozialen Gerechtigkeit auch mal vor Augen führen, dass wenn wir klagen, wir auf ziemlich hohem Niveau klagen. Und dass wir in Deutschland im Bereich soziale Gerechtigkeit im internationalen Vergleich auch schon sehr weit gekommen sind.
Menschen werden immer in unterschiedliche Familien, Kulturen, Gesellschaftsformen, Religionen und Nationen hineingeboren. Wie stellt man bei solchen Unterschieden denn Gerechtigkeit her?
Ja, die Menschen sind unterschiedlich, sie sind unterschiedlich geprägt, weil sie in unterschiedlichen Kulturen aufwachsen, unterschiedliche Religionen haben, weil sie einen unterschiedlichen familiären Hintergrund haben. Soziale Gerechtigkeit besteht dann darin, nicht zu versuchen die Menschen gleich zu machen, sondern ihnen die Möglichkeit zu geben, in ihrer Unterschiedlichkeit ihr Leben frei zu gestalten. Man sollte versuchen, allen Menschen die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten zu geben, aber man sollte nicht erwarten, und das ist auch gar kein Ziel, dass am Ende die Menschen diese Möglichkeiten in genau gleicher Art und Weise nutzen.
Etwas schwieriger ist es bei der Betrachtung der sozialen Gerechtigkeit auf globaler Ebene. Es macht natürlich einen großen Unterschied für die eigenen Lebenschancen, ob man in einer entwickelten Volkswirtschaft in Westeuropa oder Nordamerika zur Welt kommt oder ob man beispielsweise irgendwo im südlichen Afrika geboren wird. Es ist seit Jahrzehnten eine Herausforderung und wird es wahrscheinlich auch noch für Jahrzehnte sein, diese Unterschiede zu reduzieren und globale soziale Gerechtigkeit hinzubekommen. Allerdings auch da zeigt ein Blick auf die Daten, dass in den letzten Jahrzehnten schon einiges passiert ist. Zum Beispiel ist die globale Armut in den letzten Jahrzehnten massiv zurückgegangen. 1990, also vor etwa 30 Jahren, lebte circa 1/3 der Weltbevölkerung in absoluter Armut. Wenn man sich die Quote heute anschaut, sind wir bei unter 10 %. Dieser Rückgang der globalen Armut ist maßgeblich auf das starke Wirtschaftswachstum in China zurückzuführen. Erstaunlicherweise also auf ein Wachstum, das die Ungleichheit der Menschen innerhalb Chinas vergrößert hat. Die Ungleichheit in China hat zugenommen, aber global ist dadurch die Armut gesunken. Das ist ein ganz interessantes Phänomen, weil es zeigt, dass der Schlüssel zur Armutsbekämpfung im globalen Maßstab wahrscheinlich nicht in umverteilender Sozialpolitik innerhalb dieser Länder liegt, sondern in der Ermöglichung von Wirtschaftswachstum in bisher weniger entwickelten Ländern. Dieses Wachstum soll sozial inklusiv stattfinden, es muss ökologisch nachhaltig sein, aber ohne Wachstum werden wir die globalen Unterschiede zwischen den Ländern nicht verringern können.
Im Moment leben wir in schwierigen Zeiten. Gas und auch Lebensmittel werden immer teurer. Die Inflation steigt. Was für Auswirkungen hat das dann in Bezug auf soziale Gerechtigkeit?
Da sprechen Sie natürlich die größte soziale Ungerechtigkeit an, die wir im Augenblick sehen: den Krieg. Ich kann mir kaum etwas Ungerechteres vorstellen, als dass hunderttausende Menschen ums Leben kommen oder ihre Heimat verlassen müssen, weil andere sie aus ideologischer Verblendung oder getrieben von Machtinteressen Einzelner überfallen. In Deutschland bekommen wir die Folgen des Krieges vorrangig dadurch zu spüren, dass Preise für Nahrungsmittel und Energie steigen. Und das belastet natürlich alle Haushalte, aber einige Haushalte stärker als andere. Und deswegen ist es wichtig, dass man einen angemessenen sozialen Ausgleich gestaltet. Da ist ja auch einiges passiert. Die Bundesregierung hat die verschiedensten Hilfspakete aufgelegt. Man kam eine Zeit lang schon gar nicht mehr hinterher, was da alles an Maßnahmen eingeführt und umgesetzt wurde, also seien das Heizkostenzuschüsse und Energiepreispauschalen, Kinderbonus und steuerliche Erleichterungen und jetzt gerade die Gaspreis- und Strompreisbremsen. Das sind ja Milliardenpakete, wir sind bei über 300 Milliarden Euro, die dafür bereitgestellt wurden. Also da passiert einiges, um diese Belastungen halbwegs sozial verträglich und gerecht zu verteilen.
Wobei man nochmal klarmachen muss, dass es in dieser ganzen Diskussion ja manchmal hieß: die Politik müsse die Bürger entlasten. Das ist natürlich eine vollkommen falsche Perspektive. Die Politik kann nicht die Bürger in ihrer Gesamtheit entlasten. Die Politik, der Staat, sind ja letztendlich die Bürger, und die Bürger können sich nicht alle selbst entlasten. Entlastungen können sich immer nur auf einzelne Personengruppen beziehen. Man muss schauen, welche Personengruppen besonders hart getroffen sind und die müssen dann gesellschaftliche Unterstützung erhalten. Die kann aber nur von anderen Bürgern aus anderen Teilen der gleichen Gesellschaft kommen. Wenn irgendeine Gruppe entlastet wird, muss eine andere Gruppe für diese Entlastung aufkommen. Das muss dann finanziert werden, entweder über höhere Steuern für die Gruppen, die das finanziell tragen können. Wenn das nicht über höhere Steuern gemacht wird, dann wird es mittelbar über Staatsverschuldung und damit höhere Steuern in der Zukunft gemacht. Oder indem man einfach in Kauf nimmt, dass durch die zusätzliche Nachfrage, die man generiert, die Inflation noch weiter angetrieben wird und damit insgesamt die Kaufkraft reduziert wird. Aber irgendjemand muss dafür bezahlen. Eine gesamte Entlastung der Bevölkerung in einer Situation, wie wir sie haben, wo Deutschland als Land insgesamt durch den Krieg ärmer geworden ist, ist nicht möglich. Man kann immer nur einzelne, besonders benachteiligte Gruppen entlasten.
Familien mit niedrigem Einkommen leiden am meisten unter der Inflation, da sie die höchsten Inflationsbelastungen tragen. Warum ist das so?
Die Inflation, die wir im Augenblick sehen, ist vorrangig eine im Bereich Energiekosten und Nahrungsmittelpreise. Und das sind natürlich Dinge, die Haushalte mit niedrigerem Einkommen anteilig mehr kaufen als Haushalte mit einem höheren Einkommen. Deswegen sind sie von den aktuellen Preissteigerungen relativ stärker betroffen. Also wenn man das mal konkret in Zahlen fasst, dann sieht man, dass einkommensärmere Haushalte, also nehmen wir zum Beispiel eine alleinlebende Person mit einem Einkommen von maximal 900 € im Monat, eine faktische Inflationsrate von etwa 10 % erleben. Einkommensstarke Haushalte, nehmen wir einen Alleinlebenden, der ein Einkommen von über 5.000 € im Monat hat, haben nur eine Inflationsrate von etwa 7 %. Also da ist ein wahrnehmbarer Unterschied, der allerdings auch nicht so riesig ist, wie er manchmal in der Diskussion erscheint. Also alle Gruppen leiden unter der Inflation, aber einkommensärmere Gruppen leiden tatsächlich etwas mehr als einkommensstärkere.
Um den erhöhten Preisen durch den Ukraine-Krieg entgegenzuwirken, ist pünktlich zum 1. Januar das Bürgergeld in Kraft getreten - damit wurde Hartz IV abgelöst. Ein wichtiger Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit?
Das Bürgergeld wurde ja nicht erst deswegen eingeführt, weil der Ukraine- Krieg zu Preissteigerungen geführt hat. Die Diskussion ist ja schon lange da. Seit den Hartz-Reformen gibt es in Teilen der Bevölkerung und auch in Teilen der Politik, insbesondere in der SPD, eine große Unzufriedenheit und den Wunsch, dieses Hartz-IV-System irgendwie zu überwinden und zu reformieren. Und das hat man jetzt mit dem Bürgergeld versucht.
Ob das ein Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit ist? Na ja, jedes Grundsicherungssystem muss eine Balance finden zwischen Fördern und Fordern. Auf der einen Seite ist klar, dass Menschen, die unverschuldet, aber selbst manchmal auch durch eigenes Verschulden, in finanzielle Not geraten, das Recht darauf haben, von der Gesellschaft unterstützt zu werden. Erstmal finanziell, aber vorrangig dadurch, dass die Menschen Unterstützung erfahren, ihre eigene Notlage zu überwinden. Das ist das Fördern. Und auf der anderen Seite steht aber das Fordern. Da geht es darum, dass man von jedem Hilfebedürftigen erwartet, dass er alles in seiner Macht Stehende tut, auch selbst diese Hilfebedürftigkeit so schnell wie es geht zu überwinden. Bei den Hartz-Reformen, die ja vor fast 20 Jahren stattgefunden haben, hat man mehr Gewicht auf das Fordern gelegt und das Fördern kam vielleicht etwas zu kurz. Mit der Bürgergeld-Reform schwingt das Pendel wieder etwas zurück und man geht etwas vom Fordern weg und legt wieder mehr Wert auf das Fördern. Wenn man sich allerdings die Details der Bürgergeld-Reform anschaut, dann sieht man, dass es am Ende zwar kleinere Veränderungen am Grundsicherungssystem gibt, dass sich aber im Großen und Ganzen nicht so wahnsinnig viel ändert.
Vielleicht auf den Punkt gebracht: Was genau soll jetzt besser sein mit dem Bürgergeld? Und ist das dann wirklich so?
Das Beste am neuen Bürgergeld ist wahrscheinlich der Name. Das ist gar nicht despektierlich gemeint, sondern der alte Name war einfach eine Katastrophe. Die Leistung hieß ja nie Hartz IV, sondern Arbeitslosengeld II. Die Leistung war aber nie als reines Arbeitslosengeld konzipiert, denn man musste ja nicht arbeitslos sein, um sie zu erhalten. Sie hat sich stattdessen genauso an Erwerbstätige gerichtet, die ein relativ kleines Einkommen haben und ergänzende finanzielle Unterstützung benötigen. Von daher hat der Name der Leistung schon immer irgendwie einen falschen Eindruck erweckt, worum es eigentlich geht. Und da ist es gut, dass man sich jetzt auf einen neuen Namen verständigt hat und Bürgergeld – da kann man streiten, ob das jetzt der schönste Name ist oder nicht - ist auf jeden Fall besser als die Bezeichnung Arbeitslosengeld II.
Es gibt natürlich auch noch einige konkrete materielle Veränderungen. Zum Beispiel ist der Regelsatz um etwa 50 € erhöht worden, was einen guten Ausgleich für die Inflationsentwicklung darstellt. Es gibt etwas liberalere Regelungen beim Schonvermögen und bei der Berücksichtigung des Wohnraums. Da gibt es eine Karenzzeit von einem Jahr, wo erst mal praktisch nicht geprüft wird, wie viel Vermögen man hat und ob die Wohnung vielleicht zu groß ist. Erst danach greifen Anrechnungsregeln, die allerdings auch etwas lockerer sind, als sie in der Vergangenheit waren. Und es wird etwas mehr Wert auf das Fördern gelegt. Der Vermittlungsvorrang wurde abgeschafft. Es geht jetzt also nicht mehr in erster Linie darum, dass die Menschen so schnell es geht einen neuen Job kommen, sondern wenn man sieht, dass es vielleicht besser ist, dass sie erstmal eine Weiterbildung machen, weil sie danach die Chance haben, vielleicht einen besseren Job zu finden, dann ist das jetzt auch möglich. Das sind materielle Veränderungen, die auch durchaus in einigen Bereichen sinnvoll sind. Die Regierung hatte noch weitergehende Änderungen im Sinn. Es sollte zum Beispiel noch eine Vertrauenszeit geben, in der erstmal keine Sanktionen eingesetzt werden, die ist dann aber im Gesetzgebungsprozess wieder gestrichen worden. Die Änderungen sind also nicht wahnsinnig groß, aber sie sind da und einige davon sind auch ganz vernünftig.
Dass es keine großartigen Änderungen gibt, ist aber vielleicht auch gar nicht so schlimm, weil das System ja nicht so schlecht funktioniert, wie manchmal behauptet wird. Gehen wir nochmal zurück in die Zeit vor 20 Jahren, als die Hartz-Reformen umgesetzt wurden, da war das Hauptproblem am Arbeitsmarkt die Massenarbeitslosigkeit. Wir hatten ja fast 5 Millionen Arbeitslose! Damals wurde die Hartz-Kommission eingesetzt, sich Gedanken zu machen, wie man die Arbeitslosigkeit reduzieren kann. Und dann wurde ein langer Bericht vorgelegt und da hieß es ja, dass mit den vorgeschlagenen Maßnahmen die Arbeitslosigkeit halbiert werden könnte, und das innerhalb von drei Jahren. Da haben alle gesagt, das sei total verrückt. Eine so schnelle und drastische Senkung der Arbeitslosigkeit, nachdem die Arbeitslosigkeit über Jahrzehnte immer weiter angestiegen ist, das hat man für vollkommen unmöglich gehalten. Und die drei Jahre waren auch illusorisch, das ist schon richtig. Aber die Halbierung der Arbeitslosigkeit hat ja tatsächlich stattgefunden, nicht nach drei Jahren, aber nach etwa zwölf Jahren war die Arbeitslosigkeit nur noch halb so groß. Dafür ist natürlich nicht nur die Hartz-Reform verantwortlich, da gab es auch noch andere Dinge, die eine Rolle gespielt haben. Aber die Hartz-Reform hat sicherlich auch ihren Teil dazu beigetragen, dass wir jetzt nicht mehr über Massenarbeitslosigkeit reden. Also das ist eigentlich eine gute Entwicklung.
Schade ist vielleicht, dass man mit der Bürgergeld-Reform die Chancen nicht genutzt hat, tatsächlich einen etwas größeren Wurf zu wagen. Denkt man zum Beispiel daran, dass wir in Deutschland eine Vielzahl von unterschiedlichen Sozialleistungen haben, die alle von unterschiedlichen Behörden administriert werden, die unter Umständen nicht gut zusammenarbeiten, wo auch die Leistungen nicht gut aufeinander abgestimmt sind, dann hätte man diese Chance nutzen können, einiges zusammenzuführen, um wirklich eine Grundsicherung aus einem Guss zu machen und auch für die Hilfebedürftigen die Leistungen aus einer Hand anzubieten. Dann könnten sie leichter erfahren, worauf sie eigentlich Anspruch haben, und diesen Anspruch dann auch umsetzen. Wir haben nichts davon, wenn wir sozialpolitische Leistungen anbieten, die dann allerdings von denjenigen, die sie bekommen sollen, nicht in Anspruch genommen werden.
Immer mal wieder diskutiert wird außerdem das bedingungslose Grundeinkommen. Und wäre das wirklich eine Lösung?
Es gibt im Grunde zwei Alternativen, wie man ein Grundsicherungssystem aufziehen kann. Man kann es bedürftigkeitsgeprüft machen, wie wir das beim Bürgergeld tun. Da prüft man, ob jemand bedürftig ist, also nicht zu viel eigenes Einkommen hat und bereit ist zu arbeiten, sonst kriegt man das Geld nicht. Beim bedingungslosen Grundeinkommen ist es hingegen egal, was man an sonstigem Einkommen hat und ob man bereit ist zu arbeiten oder eben nicht. In jedem Fall bekommt man das bedingungslose Grundeinkommen.
Das bedingungslose Grundeinkommen hat eine ganze Reihe von Fürsprechern. Und es gibt auch aus meiner Sicht einige Vorteile. Ein Vorteil ist, dass es wenig Verwaltungsaufwand erzeugt. Man braucht keine Behörden, die dann prüfen, ob jemand vielleicht eine zu große Wohnung hat oder noch irgendwo Vermögen besitzt, das er nicht angegeben hat. Das entfällt einfach alles. Ein weiterer Vorteil ist, dass die Leistung für die Bedürftigen weniger stigmatisierend ist, denn sie bekommen ja keine Leistung, die an die Bedürftigkeit anknüpft, sondern sie bekommen einfach die Leistungen, die alle bekommen. Und ein dritter Vorteil des bedingungslosen Grundeinkommens ist, dass damit größere Arbeitsanreize für Geringverdiener einhergehen, weil ja ein Problem der Bedürftigkeitsprüfung wie beim Bürgergeld ist, dass wenn man anfängt zu arbeiten und nur ein kleines Einkommen hat, ein großer Teil davon beim Bürgergeld wieder abgezogen wird, so dass am Ende relativ wenig in der Tasche bleibt. Das ist beim bedingungslosen Grundeinkommen anders, denn man bekommt sein Grundeinkommen immer, egal ob man arbeitet und egal wie viel man verdient. Dadurch gibt es einen größeren Arbeitsanreiz für Menschen mit kleinerem Einkommen. Das sind die Vorteile vom bedingungslosen Grundeinkommen, aber es gibt es auch Nachteile.
Der Hauptnachteil des bedingungslosen Grundeinkommens besteht darin, dass es gegenfinanziert werden muss. Wenn man das über Steuern macht, dann steigt die Abgabenlast enorm an. Alle Studien, die ich kenne, kommen auf Abgabenlasten von etwa 70 % auf selbst verdientes Einkommen bei moderaten Höhen des bedingungslosen Grundeinkommens. Das sorgt natürlich dafür, dass die Arbeitsanreize bei mittleren und höheren Einkommen reduziert werden. Damit stehen positive und negative Effekte gegeneinander, denn wenn die Arbeitsanreize bei mittleren und höheren Einkommen zu stark reduziert werden und die Menschen nur noch Teilzeit arbeiten oder ein Wechsel in die Schwarzarbeit stattfindet oder man wirtschaftliche Aktivität ins Ausland verlagert, wo die Abgaben weniger hoch sind, dann schwindet damit natürlich die Finanzierungsbasis, die man braucht, um das bedingungslose Grundeinkommen überhaupt zu finanzieren. Es gibt einige Studien, die sagen: Naja, die positiven Effekte bei den Geringverdienern sind groß genug, um die negativen Effekte mehr als auszugleichen. Es gibt allerdings auch Studien, die genau zum gegenteiligen Schluss kommen. Das Problem ist, dass wir nicht wissen, wie die Menschen tatsächlich reagieren würden, wenn wir sie in so ein System werfen, wo sie ein bedingungsloses Grundeinkommen in nennenswerter Höhe, nicht nur ein paar 100 €, sondern meinetwegen 1.000 € im Monat, erhalten und gleichzeitig allerdings alles Einkommen, was sie beziehen, mit mindestens 70 % wieder belasten. Weil wir so eine Situation in der Realität noch nicht beobachtet haben, wissen wir nicht, was dann kurzfristig passiert. Wir wissen vor allen Dingen auch nicht, was mittel- und langfristig passiert, denn es wird ja dann vermutlich zu einer Verschiebung von sozialen Normen kommen. Es kann ja sein, dass ich sage: Okay, selbst mit der 70 % Steuerlast gehe ich trotzdem noch Vollzeit arbeiten, weil einfach alle Vollzeit arbeiten, die ich so kenne, und das ist die soziale Norm, das gehört dazu, das mache ich eben so. Aber wenn jetzt einige anfangen, nur noch Teilzeit zu arbeiten, sehe ich: das geht ja auch und das machen immer mehr und ich werde da nicht schief angeguckt, wenn ich das auch mache, ja, dann wechsle ich vielleicht auch auf Teilzeit. Die Normverschiebung passiert nicht kurzfristig, die passiert mittel- und langfristig und bedroht dann aber immer mehr die Finanzierbarkeit eines bedingungslosen Grundeinkommens. Deswegen bin ich insgesamt eher skeptisch, was die Vorteile des bedingungslosen Grundeinkommens im Vergleich zu einer bedürftigkeitsgeprüften Grundsicherung, wie wir sie im Augenblick beim Bürgergeld haben, angeht.
Ein weiteres Thema, das die Welt und Menschen bewegt, ist der Klimaschutz. Viele Menschen befürchten, dass umweltpolitische Maßnahmen und die Energiewende zu großen finanziellen Belastungen führen, die vor allem Geringverdiener ganz besonders treffen werden. Ist das so?
Der menschengemachte Klimawandel stellt natürlich eine Belastung dar und er belastet immer irgendwen, egal, was wir tun. Also wenn wir nichts tun, belasten wir zukünftige Generationen. Wenn wir ambitionierte Klimaschutzpolitik betreiben, belasten wir heutige Generationen. Das wird sich nicht vermeiden lassen. Daher geht es darum, eine vernünftige Balance zu finden zwischen den Ansprüchen der jeweiligen Generationen. Also irgendwie eine sozial gerechte, intergenerational gerechte Klimapolitik hinzukriegen. Eine sozial gerechte Klimapolitik muss darauf achten, dass sie die Lasten gemäß der individuellen Leistungsfähigkeit verteilt. Und trotzdem muss sie anreizkompatibel sein. Also sie muss schon darauf achten, dass alle ihren Teil dazu beitragen, auf klimaschädliches Verhalten zu verzichten. Und das ist unabhängig vom Geldbeutel. Da muss jeder sich irgendwo einschränken. Ich glaube allerdings, dass die gesellschaftliche Akzeptanz von Klimaschutzpolitik größer ist, wenn man klarmacht, dass man für die Belastungen, die man der Bevölkerung zumutet, wirklich möglichst viel Klimaschutz kriegt. Oder umgekehrt formuliert, dass man den Klimaschutz, den man macht, kosteneffizient hinbekommt, so dass er mit möglichst geringen Belastungen einhergeht. Und dafür muss man eben die geeigneten politischen Instrumente wählen. Und die gibt es ja. Also aus meiner Sicht und aus Sicht der gesamten ökonomischen Zunft liegt der Schlüssel in einer einheitlichen CO2-Bepreisung. Egal wie man die im Detail ausgestaltet. Aber mit einer einheitlichen CO2-Bepreisung würde man eben kosteneffizienten Klimaschutz hinbekommen. Und das Schöne an so einer staatlich organisierten CO2-Bepreisung ist ja, dass damit auch noch Einnahmen beim Staat generiert werden, die man dann dafür verwenden kann, auch noch die entsprechend besonders hart getroffenen bedürftigen Gruppen finanziell zu unterstützen. Und wenn man das macht, dann braucht man keine politische Mikrosteuerung, wo die Politik dann versucht, einzelnen Unternehmen und privaten Haushalten vorzuschreiben, wie sie sich verhalten sollen. Bei der einheitlichen CO2-Bepreisung machen das die Unternehmen und die privaten Haushalte von ganz allein. Die wissen selbst am besten, wo sie CO2 einsparen können. Aber sie müssen es eben auch einsparen, weil sie es sich ansonsten nicht mehr leisten könnten.
Soziale Ungleichheit ist noch immer Alltag in der Welt und auch in Deutschland. Was ist denn nun aber die Lösung? Wie kann man denn die Verteilung gerechter gestalten?
Wie man die Verteilung gerechter gestalten kann, ist natürlich die Eine-Million-Euro-Frage, vielleicht ist sie auch schwerer zu beantworten als die Eine-Million-Euro-Frage, weil es ja keine eindeutige Antwort darauf gibt. Es hängt ja immer davon ab, was man unter sozialer Gerechtigkeit eigentlich versteht. Man kann sich aber auf die Chancengleichheit beziehen. In einem sozial gerechten Zustand sollen alle Menschen gleiche Rechte haben und, etwas erweitert formuliert, möglichst große und gleich verteilte Chancen, ihr Leben nach ihren eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Ich ergänze das mit den möglichst großen Chancen, weil wir auch nichts davon haben, wenn alle die gleichen Chancen haben, aber die Chancen einfach für alle gleich niedrig sind. Das ist auch keine sozial gerechte Situation. Wenn man sich diese Definition nimmt, kann man daraus Aufgaben für die Politik ableiten. Die Menschen müssen gleiche Rechte haben. Das heißt, die Politik muss dafür sorgen, dass die individuellen Menschen- und Bürgerrechte geschützt sind. Dann geht es um die möglichst großen und gleichen Entwicklungsmöglichkeiten und dazu brauchen wir effizientes Wirtschaften. Das heißt, wir müssen schauen, dass mit den knappen Ressourcen, die wir auf der Welt haben, gut umgegangen wird, dass wir sie so einsetzen, dass damit insgesamt möglichst viele Konsummöglichkeiten und, weiter gefasst als nur materieller Konsum, wirklich menschliche Entwicklungsmöglichkeiten geschaffen werden. Neben dem effizienten Wirtschaften brauchen wir inklusives Wirtschaften, das heißt, es müssen alle etwas davon haben. Alle müssen die Möglichkeit haben, sich am Produktionsprozess zu beteiligen und dann auch die Früchte der Produktion zu genießen. Und das Dritte ist, dass das Wirtschaften nachhaltig passiert, dass also nicht nur heutige Generationen möglichst gute Entwicklungsmöglichkeiten haben, sondern dass diese Möglichkeiten auch zukünftigen Generationen genauso zur Verfügung stehen. Also wenn wir das hinkriegen: Schutz der individuellen Rechte und ein effizientes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaften, dann kommen wir ein gutes Stück voran im Streben nach sozialer Gerechtigkeit.