Die Uni Magdeburg hat sich auf die Fahnen bzw. ins Leitbild geschrieben, chancengleiche Ausbildungs-, Studien- und Arbeitsbedingungen umzusetzen. Sie steht für die Wertschätzung von Diversität in Forschung, Lehre und Arbeitsalltag und möchte als Vorbildeinrichtung auch ins Land Sachsen-Anhalt wirken. Aber wie schaffen wir es im universitären Alltag, mit Unterschiedlichkeit von Menschen und Meinungen, Sichtweisen und Standpunkten umzugehen? Wo liegen unsere Chancen, wie erkennen wir Barrieren, wann finden wir gemeinsam Lösungen? Katharina Vorwerk hat die Prorektorin für Forschung, Technologie und Chancengleichheit, Prof. Borna Relja, dazu befragt.
Frau Professorin Relja, was bedeutet für Sie gelebte Vielfalt an einer Universität generell?
Gelebte Vielfalt bedeutet, dass Abweichungen von vermeintlichen Normen so selbstverständlich sind, dass sie schlicht und einfach kein Thema sind oder irgendeine Herausforderung darstellen. Kultureller oder sozialer Hintergrund der Studierenden oder Beschäftigten, Bildungswege, Erfahrungshintergründe, Lebensumstände, Alter, Religion, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderungen oder Erkrankungen entscheiden nicht über Studienzugang, Studienerfolg oder Karrierewege. Das kann allein der individuellen Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft vorbehalten sein.
Ist die Uni Magdeburg vielfältig oder müssen wir es noch werden?
Es gibt so viele Antworten auf diese Frage wie Studierende und Beschäftigte an der Uni. Wenn Sie auf die Homepage des Netzwerkes für Chancengleichheit und Diversität schauen, sehen Sie, dass unsere Studierenden und Kolleg*innen Diversität unterschiedlich definieren. Was sie vereint, ist der Wunsch nach Verbesserung. Denn, klar, wir sind vielfältig, allein durch die Fächerkultur oder den über 25-prozentigen Anteil an internationalen Studierenden. Wir müssen uns aber gemeinsam mehr anstrengen, Diversität als enormes Potenzial an und für die Universität zu verstehen. Wenn jeder und jede von uns die Frage, ob wir frei sind von Vorurteilen und ob die Wertschätzung des jeweils anderen zur selbstverständlichen Umgangskultur an unserer Universität gehört, unmittelbar, vorbehaltlos und glaubhaft mit einem JA beantworten kann, dann wäre alles in Ordnung. Ich vermute jedoch, dass wir noch sehr viel mehr Potenzial haben als wir erkennen.
Können wir Vielfalt messen? Gibt es Parameter, die aussagen, wie gut wir sind?
Selbstverständlich. Inklusion, zum Beispiel, ist sowohl subjektiv als auch objektiv leicht messbar. Schauen wir auf unsere vielschichtigen Führungsebenen der Universität, der Fakultäten, der Institute, der Arbeitsgruppen, der Abteilungsleitungsebene, der Studierendenschaft und so weiter. Wir können hier die rein prozentuale Zugehörigkeit nach Vielfaltskriterien erfassen und sichtbar machen. Wie gut wir tatsächlich sind, können uns aber nicht nur die reinen Zahlen aufzeigen. Bei Diversität geht es auch um eine psychologische Sicherheit. Deswegen sind anonyme Umfragen beispielsweise wie die aktuelle Umfrage des FEMPower-Netzwerkes des Landes Sachsen-Anhalt zu Diskriminierungserfahrungen sehr wichtig. Diese erfragen beispielsweise, ob sich jemand einer Gruppe zugehörig fühlt, sich frei fühlt, die eigenen Absichten zu teilen, ohne dafür sanktioniert zu werden
Vielfalt bedeutet, Gruppenzugehörigkeiten anzuerkennen, andere Perspektiven wertzuschätzen, verschiedene Bedürfnisse zu akzeptieren. Ohne Unterschiedlichkeit und Abgrenzung voneinander gibt es also auch keine Diversität. Wie wird aus Gruppen eine universitäre Gemeinschaft und: Was eint uns?
Vielfalt bedeutet, viele verschiedene Dinge, Eigenschaften oder Möglichkeiten zuzulassen. Andere Perspektiven wertzuschätzen, verschiedene Bedürfnisse zu akzeptieren, ist doch im Wesentlichen Ausdruck des Grundrespekts für Individualität. Mit Respekt wird aus Gruppen eine Gemeinschaft. Wenn sich Individuen frei mit ihrer Persönlichkeit und Identität einbringen können, werden Ungleichheitsverhältnisse abgebaut, wir sind motivierter, leistungsfähiger und zufriedener und es entsteht eine universitäre Gemeinschaft. Warum sollte Unterschiedlichkeit ein Problem sein? Diese Frage müssen wir uns stellen. Unterschiedlichkeit in der universitären Gemeinschaft ist Voraussetzung für Innovation und Lernen. Im Grunde ist die Unterschiedlichkeit das, was uns eint, und das, was uns voranbringt.
Wir haben vor einem Jahr die Charta der Vielfalt unterschrieben, haben Diversität quasi strategisch verankert, was ist seitdem passiert?
Mit der Unterzeichnung der Charta der Vielfalt hat die Uni Magdeburg ein wichtiges Signal gesendet und damit die aktive Umsetzung von Diversity-Management an der OVGU initiiert. Und es geht langsam voran. Seit der Unterzeichnung findet eine größere Sensibilisierung für das Thema statt. Diese müssen wir weiterentwickeln, um zu zeigen, dass hier eine Chance für die gesamte Universität liegt. Das Büro für Gleichstellungsfragen ist hier sehr aktiv, zum Beispiel mit der Kampagne zur Antidiskriminierung „Gelebte Vielfalt“, mit der studentischen Diversity Challenge, mit der Gründung der Arbeitsgruppe Antidiskriminierung, mit der Organisation der interdisziplinären Onlinemesse „Disziplinär forschen mit Blick auf Geschlecht und Diversität“, mit Vorlesungen und vielem anderen mehr. Auch die Förderung von nachhaltigen Strukturen ist wichtig. Das Netzwerk setzt sich mit Themen wie Antidiskriminierung und Antirassismus, aber auch mit dem barrierefreien Zugang für die Homepage oder der Weiterentwicklung der Diversitätsstrukturen auseinander. Darüber hinaus stehen wir kurz vor der Verabschiedung der Richtlinie gegen Diskriminierung und sexualisierte Gewalt an der Uni Magdeburg. Und es geht bei der Gleichstellung nicht ohne Quoten. Daher sollten wir positiv auf die neue Grundordnung der Uni blicken, in der die geschlechterparitätische Besetzung von Kommissionen verankert ist. Wir müssen Schritt für Schritt gehen und gemeinsam einen Kulturwandel anstreben. Zukunftsfähigkeit beginnt im Kopf und ist somit für jeden eine persönliche Herausforderung.
Prof. Borna Relja (links) mit dem Netzwerk Chancengleichheit und Diversität und dem Rektor Prof. Dr.-Ing. Jens Strackeljan bei der Unterzeichnung der Charta der Vielfalt (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Womit sind Sie unzufrieden?
Generell gestaltet sich die Priorisierung schwierig. Denn welche Diversity-Maßnahme hat Priorität? Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Diversity in der Personalentwicklung, Studierendenauswahl, Barrierefreiheit, diversitätssensible Lehre? Ich wünsche mir, dass der stetige Austausch über erreichte Ziele leichter wird, dass wir die richtige Plattform für einen intensiven Dialog finden. Wir sind noch nicht so weit, dass wir Diversity Management bei jeder Entscheidung mitdenken. Ich freue mich über jede Einzelmaßnahme, aber sie ist keine Lösung. Ich bin aber prinzipiell dann besonders unzufrieden, wenn Vielfalt als Bedrohung oder Nachteil empfunden wird.
Toleranz kommt von tolere, was wörtlich „ertragen“ heißt. Haben wir verlernt, das Andere auszuhalten?
Eine für mich persönlich in gewisser Hinsicht fast provokative Frage in Zusammenhang mit Vielfalt, die wohl eher die Philosophen beantworten können. Glücklicherweise haben wir inzwischen ein anderes Verständnis für Toleranz entwickelt. Die Frage ist, wie weit wir die Bedeutung tatsächlich verinnerlicht haben. Ich denke, Kinder sind da gute role models. Sie reagieren in der Regel auf Neues neugierig, aber auch so, wie auch ihre Umgebung reagiert. Wir haben im Grunde jeden Tag auf dem Campus Trainingsmöglichkeiten, Toleranz zu üben.
Wenn wir vielfältig aufgestellte Teams als Nationalmannschaften verstehen, wäre ein gutes Training für den gemeinsamen Erfolg entscheidend. Dann wird aus starken Einzelleistungen ein Mannschaftserfolg. Haben wir – im übertragenen Sinn – Trainingsplätze und Trainer an der OVGU?
Ja, das haben wir. Und wir haben noch ein hartes Training vor uns. Aber: Wir haben auch eine gute Mannschaft. Es engagieren sich
- Gleichstellungsbeauftragte,
- Ausländerbeauftragte,
- Behindertenbeauftragte,
- Studiendekanate,
- Referate,
- Familienbeauftragte,
- die Graduate Academy,
- die allgemeine Studienberatung,
- Fachschaftsräte,
- das betriebliche Gesundheitsmanagement,
- Konfliktbeauftragte,
- der Personalrat mit Jugend- und Auszubildendenvertretung,
- Schwerbehindertenvertretung,
- die Referentin des Prorektorats für Forschung, Technologie und Chancengleichheit
und so weiter und so fort. Die Universität hat eine ganze Bandbreite an Servicestrukturen. Nur im Zusammenspiel zwischen all den genannten Stellen können präventive Diversity-Maßnahmen in Netzwerken auf dem OVGU-Spielfeld so strukturiert gelebt werden, dass glaubwürdig und sichtbar ein gerechter Spielverlauf gesichert wird, der uns wiederum attraktiv macht für junge Talente, die ebenso Wert legen auf eine nachhaltige, vielfältige Mannschaftsinklusionskultur. Und: Ein gutes Spiel sollte übertragen werden, daher sind auch die entsprechend angepassten Werbe- und Kommunikationsstrategien dabei von zentraler Bedeutung.
Die OVGU ist international aufgestellt, über 100 Nationalitäten sind auf dem Campus vereint. Worin besteht an dieser Stelle eine große Chance, wo stehen wir vor Herausforderungen?
Die große Chance ist, dass all diese Menschen bei uns bereits studieren und arbeiten. Die große Aufgabe ist, sicherzustellen, dass sie weiterhin kommen und, vor allem, dass sie auch bleiben. Bereits seit Jahren belegen Studien den Unternehmen mit hohem Diversitätsfaktor, überdurchschnittlich profitabel zu sein. Individuelle Perspektiven, Erfahrungen und Kenntnisse führen zu erhöhter Kreativität und Innovation. Kreativität und offene Innovationsprozesse sind auch entscheidend für die nachhaltige Entwicklung unserer Universität. Wir müssen diese Vielfalt so strukturiert fördern und fordern, dass sich ihr Potenzial in Teams etablieren und im gesamtuniversitären Kontext entfalten kann. Wir müssen die Teams richtig zusammenzusetzen, Fluktuationsraten und Engagement beachten, Trainingsangebote für interkulturelle Kompetenzen, Sprachkurse oder Entwicklungsprogramme unterbreiten, Vielfalt offen und gezielt fördern, aber andererseits auch den Aufbau von Kompetenzen und Strukturen im Transformationsprozess dann gezielt so analysieren, dass wir wissen, wo welche Art der Diversität an der Uni zielführend ist. Und manchmal sind auch die rein baulichen Maßnahmen eine Herausforderung, so wie im Falle des neuen „Welcome Center“ der Uni Magdeburg. Auch städtische Strukturen sind entscheidend; Wohnungen, Mieten, Verkehr und Mobilität, soziale Infrastruktur, Stadtentwicklung sind für uns wichtig.
An der Uni Magdeburg kommen über 100 verschiedene Nationalitäten und Kulturen zusammen. (Foto: Jana Dünnhaupt / Uni Magdeburg)
Vielfalt bedeutet, alle Sichtweisen und Talente sichtbar zu machen und zu fördern. Sind wir als universitäre Gemeinschaft darauf vorbereitet?
Das ist eine sehr wichtige Frage. Kreativität und Innovation sind vermutlich die ursprünglichsten Aufgaben und zugleich Antrieb einer Universität und der universitären Gemeinschaft. Wir können Vielfalt nicht einfach ignorieren aus Sorge, dass wir den Balanceakt zwischen „Toleranz“ und „Chaos“ nicht schaffen. Vielfalt ist im Grunde nichts Neues, sie ist nur präsenter. Jeder einzelne in der universitären Gemeinschaft sollte sich die Frage stellen: Bin ich überfordert und, wenn ja, warum? Es gibt klare Werte und Ziele, die ein zivilisiertes Verhalten sowie eine hochgebildete Gesellschaft aufrechterhalten. Es geht also nicht allein darum, in der universitären Gemeinschaft alle Sichtweisen und Talente sichtbar zu machen und zu fördern, sondern Vielfalt so zu fördern, dass niemand das Gefühl der sozialen oder strukturellen Ungerechtigkeit hat, oder etwa nicht?
Sehen Sie einen Auftrag der Uni Magdeburg als gesellschaftliches role model?
Absolut. Und als role model dürfen wir uns nicht mit der symbolischen Darstellung der Diversität begnügen, sondern müssen den strukturellen Transformationsprozess so organisieren und umsetzen, dass die Vielfalt als erstrebenswertes Ziel der Gesellschaft sichtbar gelebt wird.
Was halten Sie davon, dass nur Frauen Gleichstellungsbeauftragte werden können?
Es ist meiner Ansicht nach richtig, dass bei uns nur Frauen diese Position vorbehalten bleibt. Die Statistik indiziert immer noch Benachteiligung. Aber wir haben für die Amtszeit 2000 bis 2022 drei männliche stellvertretende Gleichstellungsbeauftragten, in der Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik, der Fakultät für Mathematik und der Fakultät für Verfahrens- und Systemtechnik. Wir wissen, dass diese Kollegen sich gleichermaßen aktiv wie ihre Kolleginnen gegen Benachteiligung und Diskriminierung einsetzen. Sie tragen signifikant zum nötigen Wandel im stereotypischen Verständnis der Geschlechterrollen bei. Ich bin froh um jeden Kollegen, der sich für Vielfalt aktiv einsetzt, denn er braucht auch Mut, sich den gegebenen Strukturen entgegenzustellen.
Vielfalt leben verlangt also Einsatz und Arbeit, die sich aber lohnt, denn als universitäre Gemeinschaft werden wir widerstandsfähiger und flexibler. Gibt es für Sie einen idealen Zustand, den sie sich für die Uni Magdeburg wünschen, wenn sie im kommenden Jahr 30 Jahre alt wird?
Ganz ehrlich, ich denke Vielfalt ist so dynamisch, dass es keinen idealen Zustand geben kann, sondern nur einen guten Weg zum Umgang mit Diversity und eine offene diversitätssensible Leistungskultur. Ich wünsche uns zum Geburtstag, dass wir im kommenden Jahr mit den vielen hier angerissenen Themen weiter sind und ein größeres Budget zur Förderung von Diversität zur Verfügung haben. Dann können wir die Uni Magdeburg offener, diverser und chancengleicher machen und noch vorhandene Ungleichverhältnisse abbauen.
Frau Professorin Relja, vielen Dank für das Gespräch!