„Soll ich‘s wirklich machen oder lass ich‘s lieber sein?“ Eine neuralgische Frage, die sich nicht nur die Band „Fettes Brot“ 1996 in ihrem Hip-Hop-Klassiker „Jein“ stellte und auch in einem Remake 2002 nicht beantworten konnte. Es ist vor allem eine Frage, die uns durch den Alltag begleitet. Denn Entscheidungen zu treffen, ist für uns nicht immer leicht. Oft können wir aus schier unzähligen Möglichkeiten wählen. Welche am Ende die richtige ist, wissen wir vorher natürlich nicht. Also wälzen wir die Optionen hin und her, wägen das Pro und Contra ab, überlegen, was wir eigentlich erreichen wollen und was uns das wert ist. Und während wir noch überlegen, beobachtet das Handlungsüberwachungssystem in unserem Gehirn, zu dem auch der sogenannte posteriore frontomediane Kortex gehört, das Geschehen ganz genau. Die Gehirnregion liegt von oben betrachtet ziemlich genau unter unserem Mittelscheitel an den Innenflächen der beiden Hirnhälften und meldet sich immer dann, wenn wir einen Fehler machen oder sich in unserer Umwelt etwas verändert und wir darum unsere Entscheidungen überdenken, also unser Verhalten anpassen müssen.
Mit mathematischen Modellen lässt sich für eine Reihe von Problemen bereits ziemlich genau die optimale Entscheidung berechnen. „Das ist aber so aufwendig, dass es biologisch unwahrscheinlich ist, dass unser Gehirn das auch kann. Vielmehr findet es Lösungen, die dem Optimum nahekommen. Und es ist erstaunlich, wie nah unser Gehirn diesem oft kommt“, erklärt Prof. Dr. med. Markus Ullsperger vom Institut für Psychologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Wie genau unser Gehirn das macht, kann die Wissenschaft aber noch nicht ausreichend erklären. „Entscheidungen zwischen zwei Auswahloptionen sind bisher am besten erforscht. Es gibt auch viele Forschungsergebnisse zu sequentiellen Entscheidungen – also, wenn uns eine Möglichkeit begegnet und wir entscheiden müssen, ob wir sie nutzen oder auf eine bessere Option warten möchten, zum Beispiel bei der Entscheidung für eine neue Wohnung oder der Wahl unseres Partners“, erläutert Ullsperger. Diese Untersuchungen zeigen vor allem eins: dass wir uns und unsere Handlungen ständig hinterfragen. Denn, nachdem wir uns entschieden haben, überprüfen wir sofort, ob wir damit unser zuvor gestecktes Ziel erreicht haben oder ob sich in unserer Umgebung etwas verändert hat und wir darum doch anders handeln müssen bzw. können. So erkennen wir nicht nur, ob wir uns richtig oder falsch entschieden haben, wir nehmen auch bedrohliche Situationen oder Chancen wahr, die sich unerwartet auftun. Unser Handlungsüberwachungssystem – also das Netzwerk rund um den posterioren frontomedianen Kortex – bewertet daraufhin, ob wir unser Verhalten ändern und vielleicht sogar erlernte Regeln überdenken müssen. „Das kann man sich wie einen Kreislauf vorstellen: Wir haben gewisse Vorstellungen, was wir mit einer Handlung erreichen wollen. Anhand dieses Ziels wird ständig abgeglichen, ob das eintritt, was wir erwartet haben“, erklärt Prof. Ullsperger.
Die technische Assistentin Christina Becker legt dem Probanden eine Kappe mit Elektroden zur Messung der Hirnströme (EEG) an. (Foto: CBBS, OVGU Magdeburg, D. Mahler)
„Die Differenz zwischen Erwartung und Ergebnis nutzen wir, um unser Handeln zu optimieren. In ähnlichen Situationen werden wir versuchen, besser zu entscheiden, um die richtige Wahl zu treffen und Fehler zu vermeiden.“ Bei einfachen Handlungen ist uns unser Gehirn sogar einen Schritt voraus – wenn wir beim Autofahren beispielsweise das Gas- statt das Bremspedal betätigen, erkennt es den Fehler, während wir diesen machen. Ob wir am Ende unser Verhalten ändern, hängt stark davon ab, wie sehr das Ergebnis vom erwarteten Zustand, also unserem Ziel, abweicht, beziehungsweise welche Auswirkungen der Fehler hat. Aber auch unsere Motivation, Stimmung oder psychische Störungen spielen eine Rolle. Bei einer schweren Depression zum Beispiel fühlen sich die Betroffenen hilflos und können nicht mehr adäquat auf Veränderungen der Umwelt reagieren und ihr Verhalten anpassen. Ganz anders bei Zwangsstörungen: Hier signalisiert das Gehirn nach jeder Handlung immer wieder, dass eine weitere Handlung erforderlich ist – so kann es zu Wasch- oder Kontrollzwängen kommen. Es ist ein fehlgeleitetes Signal im System, das immer wieder sagt „hier ist was nicht in Ordnung“ und dadurch Anpassungsreaktionen auslöst. Dieses Fehlersignal bleibt aber auch nach wiederholtem Händewaschen bestehen, also wird die Handlung ständig wiederholt. Untersuchungen zeigen, dass das Kontrollzentrum der Betroffenen deutlich überaktiviert ist. Bei Depressionen fallen die wissenschaftlichen Erkenntnisse hingegen sehr unterschiedlich aus, weil die Krankheit selbst so vielfältig ist; der posteriore frontomediane Kortex ist bei Betroffenen entweder über- oder unteraktiviert.
Diese Aktivierung kann mit sogenannten bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht werden, zum Beispiel mit einem Magnetresonanztomographen (MRT) oder Elektroenzephalographie (EEG). „Probanden lösen dabei unter anderem einfache Reaktionszeitaufgaben: Ihnen werden auf einem Bildschirm drei Pfeile angezeigt, die in unterschiedliche Richtungen zeigen. Achten sollen sie aber nur auf den mittleren Pfeil und so schnell wie möglich entscheiden, ob dieser nach links oder rechts zeigt“, erklärt der Neuropsychologe. „Entscheiden sie sich falsch, schlägt das EEG aus und wir sehen, dass die Probanden den Fehler bemerken.“ Anders ist das bei Entscheidungs- und Lernaufgaben. Die Versuchspersonen müssen aus verschiedenen Symbolen wählen, mit welchem sie spielen wollen. Erst mit der Zeit lernen sie, dass es gute Symbole gibt, die in 80 Prozent der Fälle belohnt werden, also Punkte bringen; dass es aber auch neu- trale und schlechte Reize gibt, bei denen die Punkte sich nicht verändern, beziehungsweise in 80 Prozent zu Punktverlust füh- ren. Also setzen sie natürlich auf die guten Symbole. „Im Verlauf des Experiments drehen wir die Werte aber um, heißt: Die Probanden müssen umlernen und ihr Verhalten anpassen“, verrät Professor Ullsperger. „Da die Gewinnwahrscheinlichkeit nie bei 100 Prozent liegt, ist das gar nicht so einfach. Man weiß erstmal nicht, ob das einer der ‚normalen‘ Verluste ist oder sich die Spielregeln – also die Umwelt – geändert haben. Wenn die Versuchspersonen merken, dass sich die Bedingungen ge- ändert haben, werden sie langsamer. Sie treten erstmal auf die Bremse und schauen, was denn auf einmal los ist. Das Handlungsüberwachungssystem springt also an und prüft, ob das Verhalten angepasst werden muss.“
Während eine Versuchsperson eine Aufgabe am Computer bearbeitet werden die Hirnströme über am Kopf befestigte Elektroden gemessen. (Foto: CBBS, OVGU Magdeburg, D. Mahler)
Da das Areal recht groß ist und mit anderen Hirnstrukturen zusammenhängt, konnten die einzelnen Regionen und deren Aufgaben auch mit bildgebenden Verfahren noch nicht vollständig unterschieden werden. Klar ist, dass der posteriore frontomediane Kortex aktiv ist, wenn die Menschen Fehler machen, sie Schwierigkeiten haben, Entscheidungen zu treffen und sich unsicher sind, was richtig oder falsch ist. Dazu entsendet der Kortex entsprechende Signale an andere Hirnregionen. Wie genau, weiß man aber auch noch nicht. Doch das will Professor Ullsperger mit seinem Team herausfinden und setzt dafür auf gleich zwei neue Herangehensweisen: Die Wissenschaftler werden die anatomischen Besonderheiten der Probanden berücksichtigen und eine neue Art der Hirnstimulation einsetzen. Für die Umsetzung der Studien hat er einen mit 2,5 Millionen Euro dotierten ERC-Grant erhalten – eine der höchstdotierten Forschungsförderungen für Einzelpersonen und deren Projekte weltweit; die Golden Globes der Wissenschaft sozusagen.
Seit dem Jahr 2000 beschäftigt sich der Neurowissenschaftler mit der kognitiven Kontrolle und noch immer verwundert ihn, „dass die Aktivierungen so großflächig erscheinen und über anatomische Grenzen hinweg gehen. Dabei unterscheiden sich die Hirnregionen deutlich in ihrem anatomischen Aufbau. Man würde also erwarten, dass sie unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Mir ist darum nicht klar, warum es bisher nicht gut gelungen ist, die Gehirnregionen genau abzugrenzen.“ Die Antwort hat er zwar noch nicht, aber erfolgsversprechende Ansätze, wie er sie mit seinem Team finden will: So werden sie über einen längeren Zeitraum mit nur sehr wenigen Versuchspersonen arbeiten, deren Gehirn anatomisch sehr ähnlich ist. In bisherigen Studien wurde die individuelle Anatomie nicht weiter berücksichtigt; im Gegenteil: Die Daten von unterschiedlichen Versuchsgruppen wurden bis dato immer zusammengefasst. „Dadurch entsteht bei den bildgebenden Verfahren nur ein großer Fleck – wir sehen also auf dem MRT-Bild eine große Region, die aktiviert ist. Der posteriore frontomediane Kortex unterscheidet sich aber von Person zu Person stark in seiner Faltung und Größe; auch die Verbindungen zu anderen Regionen sind sehr unterschiedlich“, fasst Ullsperger zusammen. Bisherige Hirnstrommessungen können zudem nur anzeigen, ob der Kortex aktiv ist. „Wir können daraus aber nicht schließen, dass diese Aktivität verantwortlich für das beobachtete Verhalten ist. Erst, wenn wir die Hirnregion in ihrer Funktion stören und feststellen, dass die Person eine Aufgabe nicht mehr so gut lösen kann, lässt sich ein direkter Zusammenhang herstellen.“
Auch die Aufgaben in den einzelnen Studien unterscheiden sich stark und können daher nicht miteinander verglichen werden; die unterschiedlichen Befunde zusammenzubringen, sei daher enorm schwierig. „Diese Probleme werde ich in meiner Forschung angehen. Wir werden uns bei einer kleinen Gruppe gezielt die Anatomie und die Verbindungen des posterioren frontomedianen Kortex anschauen. Diese Versuchspersonen werden zu sehr vielen Untersuchungsterminen kommen – diese vielen Messungen nennt man ‚dense sampling‘; also besonders dichte Probenahme. Mit speziellen, statistischen Verfahren werden wir schauen, welche Teilfunktionen sich bei den Aufgaben überlappen und wie diese mit dem Handlungsüberwachungssystem zusammenhängen“, erklärt der Wissenschaftler das Vorhaben. Auch die individuelle Anatomie wird das Forschungsteam viel stärker berücksichtigen, um daraus Zusammenhänge zwischen Aktivierung und Handeln ableiten zu können. „Die generellen Muster und Funktionsweisen gelten sicher für alle Menschen. Aber unsere Genetik, also die Hirnstruktur, individuelle Erfahrungen und Lebensumstände machen uns einzigartig.“
Im Kontrollraum überwachen die technische Assistentin und der Versuchsleiter die EEG-Messung aus 64 Kanälen, über die Span- nungsschwankungen auf der Kopfoberfläche abgeleitet werden. (Foto: CBBS, OVGU Magdeburg, D. Mahler)
Neben den bisherigen bildgebenden Verfahren – also MRT und EEG – werden die Wissenschaftler zudem ein neuartiges Verfahren zur Stimulation des Gehirns anwenden: die transkranielle Ultraschallstimulation. Dabei werden nicht hörbare Ultraschallwellen durch den Schädel in den Kopf gesendet, die gezielt auf die zu stimulierende Hirnregion ausgerichtet sind – bisherige Methoden können das nicht. „Die Ultraschallstimulation ist noch sehr neu und bisher nur in wenigen Laboren weltweit etabliert. Wir sind also bei der Entwicklung dieser vielversprechenden – später vielleicht klinisch anwendbaren – Methode ganz vorne mit dabei“, berichtet Ullsperger und hofft, „dass es später mal eine Methode wird, ohne Operationen neuronale Hirnstrukturen verändern zu können, um beispielsweise Patienten mit neurologischen Krankheiten zu helfen. Und wir könnten dadurch die Anpassungsprobleme bei psychischen Erkrankungen besser verstehen und therapeutische Maßnahmen ableiten.“ Dank der Förderung mit dem ERC-Grant können nun die Geräte für die neue Ultraschallstimulation angeschafft werden. Mit dem größten Teil aber werden die Personalkosten für wissenschaftliche Mitarbeiter, Doktoranden und technische Assistenten gedeckt, „denn die gesamte Infrastruktur nützt nichts, wenn sie keiner verwendet. Das Projekt ist nur in einem Team zu bewältigen, in dem möglichst verschiedene Expertisen zusammenkommen. Ohne den ERC-Grant wäre unser Projekt nicht umsetzbar.“ Bis die Forschung erste Früchte trägt, wird aber noch viel Wasser die Elbe herunterfließen, denn aus eigener Erfahrung weiß Professor Ullsperger, dass man als Forscher ein dickes Fell haben muss. „Wissenschaft ist ein langwieriges und frustrierendes Geschäft. Man muss sich lange anstrengen und oft Kritik und Rückschläge einstecken, bevor es zu Erfolgserlebnissen kommt. Das Gehirn und seine Funktionsweise haben mich schon immer fasziniert. Der Mensch kann sich offensichtlich sehr flexibel an seine Umwelt anpassen und für nahezu jedes neue Problem auch eine Lösung finden. Ich möchte die Mechanismen genau dieser Fähigkeiten verstehen.“
GUERICKE facts
- Das menschliche Gehirn wiegt im Schnitt 1.300 Gramm – bei Frauen 1.245, bei Männern 1.375. Das Hirn eines Pottwals wiegt ca. 10.000 Gramm.
- Das menschliche Gehirn besteht aus ca. 100 Milliarden Nervenzellen, die über 100 Billionen Synapsen mitein- ander verbunden sind.
- Paul C. Lauterbur erfand die Magnetresonanztomo- graphie als bildgebende Methode. 1977 wurde erstmals ein Thoraxbild im MRT aufgenommen.