Was erzählte die Nachbarin noch beim Einkauf im Supermarkt? Wie war gleich der kürzeste Weg zum Kino? Und wo ist eigentlich der Schlüsselbund beim Gang durch die Wohnung gelandet? Wer kennt nicht diese zermürbenden Fragen, das Grübeln und Nachforschen in der eigenen Erinnerung? Häufiger als gemeinhin bekannt, treten mangelnde Aufmerksamkeit, Lücken im Gedächtnis und Unsicherheit in der räumlichen Orientierung als Folge bestimmter Funktionsstörungen im Gehirn auf. Forscherinnen und Forscher der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg wollen dies mit einer Vielzahl wissenschaftlicher Einrichtungen und mit der Universität Halle in einem Exzellenzcluster untersuchen – klammern dabei aber so bekannte Erkrankungen wie Demenzen zunächst aus.
Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sprechen von einer „Pandemie kognitiver Störungen“. In dem jüngst eingereichten Forschungsantrag „Cognitive Vitality. Ein gesunder Geist in jedem Körper“ tragen sie dem Umstand Rechnung, dass viele verschiedene Ursachen das Aufnehmen und Abrufen von Informationen im Gehirn beeinträchtigen können. Prof. Dr. Emrah Düzel, Direktor des Instituts für Kognitive Neurologie und Demenzforschung an der Uni Magdeburg und Sprecher des Clustervorhabens nennt zum einen medizinische Faktoren wie eine Nieren- oder Lebererkrankung, Diabetes, Bluthochdruck und Magen-Darm-Erkrankungen. Zum anderen beeinflussen therapiebedingte Nebenwirkungen wie eine Chemotherapie zur Krebsbehandlung oder Operationen unter Vollnarkose in fortgeschrittenem Alter die Hirnaktivitäten.
Prof. Emrah Duezel (Foto: Hannah Theile / Uni Magdeburg)
Wird der Antrag bewilligt, gehen die Forschenden medizinischer und nicht-medizinischer Fachrichtungen in vier, dem „Bauhaus“ nachempfundenen interdisziplinären Werkstätten ab 2026 den Mechanismen der kognitiven Störungen sowie Präventions- und Behandlungsmöglichkeiten auf den Grund. Im Mittelpunkt steht die Kognitive Vitalität: „Darunter verstehen wir, das eigene kognitive Potenzial optimal zu jedem Zeitpunkt und trotz körperlicher Erkrankung zu nutzen“, sagt Emrah Düzel. „Es geht darum, im Alltag unabhängig zu sein und Lebenswünsche zu realisieren.“
Eine wichtige Rolle spielt im Cluster auch der Begriff Fatigue, also die Erschöpfung von Nervenfunktionen und folglich des Denkvermögens und Antriebs. Prof. Dr. med. Aiden Haghikia plant, in der Werkstatt „Recovery promotion“ (Erholung des Gehirns) ein möglichst breites Spektrum an Erscheinungsformen zu untersuchen, ist die Fatigue doch nicht nur Folge etwa einer chronischen Lebererkrankung oder von Long-Covid, sondern kann auch mit länger anhaltender monotoner Arbeitsweise zusammenhängen. Der klinische Neurologe und Neuroimmunologe will die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Erkrankungen und Lebensweisen analysieren, „damit wir dann möglicherweise unabhängig von der Ursache an der Endstrecke, also an der Beeinträchtigung der neuronalen Schaltkreise etwas machen können, um die Lebensqualität zu verbessern“.
Diese Schaltkreise genauer zu erforschen, ist Aufgabe der Werkstatt „Resource Mobilisation“ (Ressourcen des Gehirns mobilisieren). Prof. Dr. med. Stefan Remy will darin Grundlagenforschung betreiben und besser verstehen, wie „die Verbindungen von wenigen Nervenzellen bis hin zu ganzen Netzwerken im Gehirn funktionieren und wie man die nutzen kann“. Der Leiter des Leibniz-Instituts für Neurobiologie überträgt dabei Erkenntnisse aus Tierexperimenten mit Mäusen und Primaten auf den Menschen und testet neue Methoden der Hirnstimulation an allen drei Gruppen. „Wir folgen der Hypothese, dass sich bestimmte Hirnregionen, die mit Lernen und Gedächtnis zu tun haben, mit nicht-schädlichem Ultraschall stimulieren lassen.“ Leichte Temperaturveränderungen etwa des Cortex, der Hirnrinde, um ein halbes Grad, so die Annahme, verändert die Aktivität der Neuronen und verbessert dadurch die Leistungsfähigkeit.
Die strukturelle und funktionelle Bildgebung sind wesentliche Bestandteile des Forschungsprojektes und Schwerpunktes unseres Standortes Magdeburg. Mit der Hilfe von Probanden finden sich Antworten auf Fragen zum Erhalt und zum Schutz kognitiver Leistungsfähigkeit. (Foto: Sarah Rinka)
Zunächst sollen im Exzellenzcluster große Datenmengen sowohl von Patienten und Patientinnen als auch von Testpersonen gesammelt werden. In der sogenannten Mittel-Elbe-Plattform könnten dann medizinische Informationen nicht nur von Menschen mit unterschiedlichen Hirnstörungen, sondern auch von Gesunden unterschiedlichen Alters vorliegen. „Ein scheinbar gesunder 55-Jähriger kann bereits Alzheimer-ähnliche Proteinablagerungen im Gehirn vorweisen, die wiederum – neben anderen körperlichen Stressfaktoren wie beispielsweise einer Hüfttransplantation – Rückschluss auf die mögliche Verletzlichkeit dort erlauben“, sagt Emrah Düzel.
Die große Datenbank, so die Idee, wächst durch das Zusammenspiel von Probanden und Patienten, Universitätsmedizin und niedergelassenen sowie Hausärzten immer weiter an. Spezielle Untersuchungen etwa mit dem weltweit stärksten hochauflösenden MRT (Magnet-Resonanz-Tomographie) in Magdeburg, mit dem bestimmte Risikofaktoren im Gehirn identifiziert werden können, müssen zwar in der Universitätsmedizin vorgenommen werden, die Patienten bleiben jedoch im Forschungsverlauf in die hausärztliche Versorgung integriert. „Das hat den Vorteil, dass sie nicht jede Woche zu uns in die Klinik kommen müssen“, erläutert Düzel. „Damit erreichen wir wesentlich mehr Menschen und können alltagsnah untersuchen.“
Alltagsnah bedeutet, dass der am Wohnort behandelnde Arzt mithilfe von Blutproben untersucht, welche Folgen eine Operation nach sich zieht und ob ein neues Medikament Nebenwirkungen hat. Außerdem testen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst mit Hilfe digitaler Technologien, ob und wie sich ihre Hirnfunktionen im Alltag verändern. Dazu bekommen sie für mehrere Monate eine Uhr oder ein Smartphone, auf dem eine Art Computerspiel abläuft. „Sie sehen nacheinander Bilder, auf denen ähnliche Objekte und Räume abgebildet sind und müssen beschreiben, was sich verändert hat“, sagt Neurologe Düzel. „Diese Daten müssen sehr bald ausgewertet werden“, betont Aiden Haghikia: „Wir wollen schon früh intervenieren und die uns bereits zur Verfügung stehenden therapeutischen Ansätze wie Medikamente, Neuro-Stimulation oder Ernährung anwenden.“ Eine große Herausforderung besteht nach Ansicht der Forschenden deshalb darin, die vielen wissenschaftlichen Disziplinen unter einen Hut zu kriegen: Neurobiologen und Neurowissenschaftler arbeiten nicht nur mit klinischen Fächern wie Orthopädie, Innerer Medizin, Anästhesiologie und Kardiologie zusammen. Auch die Expertise von Mathematik, Informatik und Computational Intelligence ist gefragt.
Wie sich die Leistungsfähigkeit des Gehirns wieder steigern lässt, dafür sehen die Forscherinnen und Forscher vielfältige Möglichkeiten: „Es geht nicht darum, jedem zu sagen, mach so viel Sport und lebe so gesund wie möglich, dann bist du kognitiv vital“, stellt Emrah Düzel klar. All dies sei zwar selbstverständlich, aber nicht für jeden möglich. „Deshalb ist es von Bedeutung, hier medikamentös und mit anderen Interventionen wie zum Beispiel der Hirnstimulation einzugreifen – insbesondere, wenn das Gehirn durch körperliche Einschränkungen und Risiken besonders verletzlich ist.“ Die Möglichkeit, „unsere kognitive Leistungsfähigkeit über die Lebensspanne uneingeschränkt zu erhalten zu versuchen“, sei für ihn die zentrale Motivation beim Forschen, so Düzel. Als wichtiger Standort für bildgebende Verfahren sei Magdeburg hierfür prädestiniert, die Funktionsweise des Gehirns teilweise bereits erforscht. „Wir gehen davon aus, dass es Schlüsselprozesse im Gehirn gibt, die man trainieren muss. Dieses Training wiederum wirkt sich auf verschiedene kognitive Prozesse aus.“ Diese zu identifizieren und individuell trainieren zu können, sei das Ziel des Clusters.
Neurobiologe Stefan Remy ist fest davon überzeugt, dass in der Bevölkerung großes Interesse an diesem kognitiven Training besteht. „Derzeit sind leider viele Computer-Spiele auf dem Markt, die mit der Angst vor eingeschränkter Leistungsfähigkeit spielen und ein solches Training versprechen“, warnt er. Sie seien aber nicht neurobiologisch und medizinisch fundiert und hätten nicht den gewünschten Effekt.
Die Erkenntnisse des Exzellenclusters sollen möglichst schnell in die Patientenversorgung einfließen. Dazu planen die Uni Magdeburg und die Forschungsinstitute ein „Zentrum für Kognitive Vitalität“ - mit einer Ambulanz, in der Fragen der kognitiven Leistungsfähigkeit gleich bei der Behandlung berücksichtigt werden. „Patienten berichten oft, dass ihre kognitiven Fähigkeiten von Tag zu Tag schwanken, was natürlich auch altersbedingt ist“, so Remy. „Wir möchten ihnen ermöglichen, im Alltag aufmerksamer und konzentrierter zu sein und besser Entscheidungen treffen zu können – damit sie mehr gute als schlechte Tage haben.“